Handbuch des Strafrechts. Jan C. Joerden
unmittelbare Wirkung von Richtlinien auch ohne deren Umsetzung in nationales Recht bestätigt. Der Grundsatz der lex mitior gebiete es, von dem Gesetz auszugehen, welches die Tat am mildesten beurteilt.[252] Daraus ergebe sich, dass ein nachträglicher Wegfall des Verbots – mag dieser auch durch ein Ablaufen der Umsetzungsfrist zwischen Tatbegehung und Entscheidung bedingt sein – zur Straflosigkeit führen müsse.[253] Entsprechend wurde im Fall „Awoyemi“ für unerheblich erklärt, dass die Umsetzungsfrist für die Richtlinie noch nicht abgelaufen war.[254] Durch die Umsetzungsfrist bei Richtlinien soll den nationalen Gesetzgebern lediglich eine unter Praktikabilitätsgesichtspunkten unabdingbare Frist eingeräumt werden; in materieller Hinsicht ist hingegen die Anwendung des richtlinienwidrigen Gesetzes mit In-Kraft-Treten der Richtlinie nicht mehr erwünscht. Der europäische Gesetzgeber hat bereits eine andere rechtliche Grundanschauung getroffen, und diese muss auch durchgesetzt werden. Wenn aber eine nationale Gesetzesänderung nicht auf der besonderen Zeitgebundenheit des Gesetzes, sondern auf einem Wandel der Rechtsanschauung beruht, ist eine Einschränkung des Milderungsgebots nicht vertretbar. Vielmehr ist dem Gebot verhältnismäßiger Gerechtigkeit Rechnung zu tragen. Dieses Ergebnis stimmt im Übrigen mit der h.M. zum nationalen Recht überein, nach der die Sonderregelung für Zeitgesetze (§ 2 Abs. 4 StGB) im Falle einer geänderten Rechtsanschauung nicht anwendbar ist,[255] sondern das Milderungsgebot eingreift.
c) Erstreckung des Milderungsgebots auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts?
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Wenn sich das Unionsrecht begrenzend auf eine nationale Strafnorm auswirkt, ohne dass das nationale Gesetz geändert worden ist, stellt sich gleichermaßen die Frage nach dem zeitlichen Anwendungsbereich des Strafrechts, also nach dem Zeitpunkt, ab dem sich eine aus dem Unionsrecht ergebende Milderung aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts strafbegrenzend auswirkt. Da das Strafgesetz nicht geändert wird, sondern lediglich Anwendungsvorrang für das Unionsrecht besteht, können die nationalen Regelungen über die Anwendung des milderen Rechts, die eine Gesetzesänderung voraussetzen, nach dem Gesetzeswortlaut keine unmittelbare Anwendung finden. Wenn es sich beim Milderungsgebot jedoch um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts handelt, müssen auch Veränderungen der Rechtslage, die sich infolge des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts ergeben, zugunsten des Täters berücksichtigt werden. Denn die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, die allgemeinen Rechtsgrundsätze bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen und die darin getroffenen Vorgaben einzuhalten. Entsprechend hat der EuGH im Fall „Awoyemi“, in dem eine nationale Strafnorm gegen eine Richtlinie verstoßen hat, deren Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen war, zum strafrechtlichen Milderungsgebot Stellung genommen und ein Eingreifen bejaht, um eine möglichst rasche und effektive Umsetzung des Gemeinschaftsrechts in nationales Recht durchzusetzen.[256]
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In der Berlusconi-Entscheidung musste sich der EuGH mit der Frage auseinander setzen, ob das strafrechtliche Milderungsgebot auch dann eingreift, wenn ein Mitgliedstaat eine strafrechtliche Norm, zu deren Statuierung er aufgrund einer Richtlinie verpflichtet ist,[257] aufgehoben hat und nach der neuen nationalen Regelung Straflosigkeit eingetreten ist. Generalanwältin Kokott[258] kam in ihren Schlussanträgen zu dem Ergebnis, dass aufgrund des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts die frühere strafrechtliche Regelung weiterhin anwendbar sei. Ein nachträglich erlassenes gemeinschaftsrechtswidriges Strafgesetz stelle gar kein anwendbares milderes Strafgesetz dar.[259] Der EuGH[260] kommt zu dem entgegengesetzten Ergebnis: Der Grundsatz der rückwirkenden Anwendung des milderen Strafgesetzes gehöre zu den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und sei damit Bestandteil der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, die der nationale Richter bei der Anwendung des nationalen Rechts zu beachten habe. Eine Richtlinie dürfe aber nicht dazu führen, die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Angeklagten festzulegen oder zu verschärfen.[261] In der Literatur[262] wird beiden Lösungen, der der Generalanwältin und des EuGH, entgegengehalten, dass jede von ihnen einen Ausgleich zwischen dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts, dem Prinzip der „lex mitior“ und dem Verbot der strafbegründenden bzw. –schärfenden (unmittelbaren) Wirkung einer Richtlinie nur unter völliger Preisgabe eines der Prinzipien erreichen könne. Der EuGH hebele die wohl grundlegendste Maxime der Gemeinschaftsrechtsordnung aus, um zu verhindern, dass ein Beschuldigter nach dem zum Tatzeitpunkt geltenden (!) Strafgesetz verurteilt wird. Nüchtern betrachtet müsse dies erstaunen, weil der „lex mitior“-Grundsatz, der das nachträgliche Strafgesetz überhaupt erst berücksichtigungsfähig werden lasse, in den meisten nationalen Rechtsordnungen nicht einmal verfassungsrechtlich garantiert werde.[263] Der unmittelbaren Anwendbarkeit der Richtlinie vorgelagert ist jedoch die Frage, ob sich der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts bei einer nationalen Norm auch auf die in dieser Norm liegende derogierende Wirkung erstreckt. Dies hätte zur Folge, dass eine nationale Norm für rein inländische Sachverhalte außer Kraft gesetzt wäre, während dieselbe Regelung für grenzüberschreitende und die Europäische Union betreffende Sachverhalte fortbestünde, also in Geltung wäre. Damit käme der Europäischen Union gleichsam die Kompetenz zur Anordnung der Fortgeltung von Strafnormen für unionsrechtlich relevante Fälle zu. Eine solche Kompetenz auf dem Gebiet des Strafrechts wird von der ganz h.M. jedoch, sieht man von Art. 325 AEUV bezüglich Strafnormen zum Schutz der finanziellen Interessen ab, zutreffend verneint. Sowohl in der Rechtsprechung des EuGH[264] und des BGH[265] als auch in der einschlägigen Literatur[266] besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Mitgliedstaaten keine originäre Kompetenz zur Schaffung eines supranationalen Strafrechts übertragen haben.[267] Hinzu kommt, dass eine Erstreckung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts auch auf die derogierende Wirkung im Ergebnis über einen bloßen Anwendungsvorrang hinausginge und zum Geltungsvorrang des Unionsrechts führen würde. Eine so weitreichende Wirkung des Unionsrechts hat der EuGH jedoch stets abgelehnt.[268] Das Vorrangprinzip ist von vornherein nicht darauf gerichtet, eine im nationalen Recht bestehende oder entstandene Lücke durch hinzugedachtes nationales Recht zu füllen.[269]
d) Verdrängung der Sonderregelung für Zeitgesetze in § 2 Abs. 4 StGB durch Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh?
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Die Frage, unter welchen Voraussetzungen § 2 Abs. 4 StGB von Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh verdrängt wird, ist nicht abschließend geklärt. Die hier bestehende Kontroverse wurde im Zusammenhang mit der Einschränkung von Grundfreiheiten Angehöriger von Mitgliedstaaten, die neu der EU beigetreten waren (Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Bulgaren und Rumänen), und dem späteren Wegfall dieser Einschränkungen wurde ebenso diskutiert[270] wie die Rechtsprechung des BGH[271] zur Berücksichtigung (abgeschaffter) Antidumpingzölle.[272] Der EuGH hat bislang zu dieser Frage nicht Stellung genommen, obwohl im Fall Awoyemi in Folge der noch nicht abgelaufenen Umsetzungsfrist für die Richtlinie die Nichtanwendung des nationalen Strafrechts zeitlich absehbar geworden war und damit die Gefahr bestand, dass die Strafnorm ihre verhaltenssteuernde Wirkung verlieren könnte. Der EuGH legte dar, dass das Gemeinschaftsrecht nicht verbiete, dass nationale Gerichte für die Zwecke der Anwendung des nationalen Rechts nach einem Grundsatz ihres Strafrechts die günstigeren Bestimmungen des EG-Rechts berücksichtigen, auch wenn das Gemeinschaftsrecht keine dahin gehende Verpflichtung enthalte.[273]
1. Rückwirkungsverbot
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Das Rückwirkungsverbot wirft eine Reihe von Grundsatzfragen auf, wie die großen Debatten, die in jüngerer Zeit um § 2 StGB geführt worden sind[274], zeigen: die rückwirkende Verlängerung der Verjährungsfrist für NS-Morde,[275] die sogenannte Parteispendenaffäre,[276] die strafrechtliche Beurteilung „staatsverstärkter“ Kriminalität in der früheren DDR[277] und das Strafrecht der Außenwirtschaft und der Finanzsanktionen,[278] das zunehmend an praktischer Bedeutung gewinnt. Hinzu kommen Entscheidungen des EuGH zum zeitlichen Geltungsbereich von Strafgesetzen, in denen