Handbuch des Strafrechts. Jan C. Joerden
Sicherung nicht.[210] Allerdings kann der Gesetzgeber gegenteilige Regelungen treffen und hat hiervon in der Vergangenheit auch mehrfach Gebrauch gemacht. Allerdings ist die Anordnung des Rückwirkungsverbots überwiegend durch das Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23. Juli 2004[211] aufgehoben worden. Gegenwärtig betrifft § 2 Abs. 6 StGB die Sicherungsverwahrung, die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) oder einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) und die Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB). Gesetzgeberische Ausnahmen finden sich nur noch in Art. 303 EGStGB für die Führungsaufsicht (§ 68 StGB) und in Art. 305 EGStGB für das Berufsverbot (§ 70 StGB).
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Für die Sicherungsverwahrung sieht der 2013 eingeführte Art. 316f EGStGB vor, dass die Neuregelungen nur für Anlasstaten gelten, die nach Inkrafttreten des Neurechts begangen worden sind. Nach Art. 316f Abs. 2 EGStGB gelten die materiellen Anordnungsvoraussetzungen des alten, mit dem Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010[212] geschaffenen Rechts[213], wenn die letzte Anlasstat vor dem 1. Juni 2013 begangen wurde. Für den Vollzug der Sicherungsverwahrung ordnet Art. 316f Abs. 3 EGStGB demgegenüber sowohl für Alt- als auch für Neufälle ohne zeitliche Differenzierung die Geltung des § 66c StGB an.
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§ 2 Abs. 6 StGB wird als rechtsstaatlich bedenklich angesehen, weil der Gesetzgeber jederzeit eine Rückwirkung ausschließen, sie aber auch wieder aufheben kann. Denn die Maßregeln der Besserung und Sicherung hätten, auch wenn sie neben den Strafen stehen und rein präventiven Zielen dienen sollen,[214] für den Täter die gleiche einschneidende Wirkung wie Strafen.[215] Auch der Gesichtspunkt, dass es um Zweckmäßigkeit gehe, die wandelnder Anschauung unterliege und dem aktuellen Schutzzweck folge[216], könne die Durchbrechung des Rückwirkungsverbots nicht rechtfertigen.[217] Das BVerfG hat jedoch in seiner Entscheidung vom 5. Februar 2004 die rückwirkende Verlängerung der Sicherungsverwahrung (§ 67d Abs. 3 i.V.m. § 66b StGB, Art. 1a EGStGB) für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt und insbesondere einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG sowie das rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot (Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) verneint[218](näher dazu unten Rn. 100 f.).
7. Abschnitt: Geltungsbereich des Strafrechts › § 30 Zeitlicher Geltungsbereich › C. Internationalisierung, vornehmlich Europäisierung des Strafrechts
I. Rückwirkungsverbot
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Der Grundsatz „nullum crimen, nulla poena sine lege“ ist in Art. 7 EMRK (Rn. 87) sowie in Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh (Rn. 88 ff.) garantiert.
1. Art. 7 EMRK
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Art. 7 EMRK garantiert das Rückwirkungsverbot, soweit die Rückwirkung den Angeklagten benachteiligt.[219] In Fällen eines völkerrechtlichen Verbrechens lässt Art. 7 Abs. 2 EMRK eine rückwirkende Bestrafung für Taten zu, die zur Zeit ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar waren.[220] Das Rückwirkungsverbot war unter dem Gesichtspunkt einer zusätzlich rückwirkend verhängten Strafe[221] bei der nachträglich verhängten Sicherungsverwahrung und bei der Aufhebung der früheren Höchstfrist der Sicherungsverwahrung[222] einschlägig (Rn. 105 f.). Die deutsche Ahndung der Mauerschützenfälle[223], die den Rechtfertigungsgrund des § 27 Abs. 2 GrenzG der DDR infolge eines Widerspruchs zu übrigem Recht der DDR und zu höherrangigen internationalen Konventionen außer Acht ließ, hat der EGMR bei der Anwendung auf einfache Soldaten[224] nicht beanstandet[225] (Rn. 102 f.). Eine Verletzung des Rückwirkungsverbots kann bereits dann gegeben sein, wenn eine Strafnorm zur Zeit der „Tat“ zwar bestanden hatte, bestimmte – von ihrem Wortlaut erfassbare – Verhaltensweisen aber derart akzeptiert waren, dass von einer De-Facto-Entkriminalisierung auszugehen war.[226]
2. Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh
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Auch Art. 49 Abs. 1 S. 3 GRCh garantiert den Grundsatz „nullum crimen“ und damit auch das Rückwirkungsverbot. Bezüglich dieses Grundsatzes hat der EuGH bereits im „Bosch“-Urteil festgestellt, dass es sich hierbei um eine elementare Ausprägung des Gesetzlichkeitsprinzips handele, die auch im Gemeinschaftsrecht Geltung beanspruche.[227] Aus diesem Grund wendete der Gerichtshof das europäische Kartellordnungswidrigkeitenrecht erst ab dem Zeitpunkt des Beitritts eines Mitgliedstaates auf wettbewerbswidrige Praktiken der Unternehmen an.[228] So stellte er im Verfahren „Tepea/Watts“ darauf ab, dass die zwischen einem englischen und einem niederländischen Unternehmen seit Mitte der fünfziger Jahre praktizierte Marktaufteilung erst seit dem 1. Juni 1973 – dem Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft – ordnungswidrig gewesen sei, denn erst ab diesem Zeitpunkt sei der Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigt worden. Zuvor habe sich die Vereinbarung lediglich auf den Binnenhandel der Niederlande ausgewirkt. Für die außerstrafrechtlichen Normierungen hielt er dagegen eine Rückwirkung für möglich.[229] Der EuGH hat ferner in der Entscheidung Regina/Kirk Kent[230] im Hinblick auf eine britische Regelung, die den Zugang dänischer Schiffe zu britischen Hoheitsgewässern bei Strafsanktion verbot, die Bedeutung des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots betont. Die Entscheidung betraf eine Fallkonstellation, in der es den Mitgliedstaaten für eine Übergangszeit erlaubt war, Maßnahmen zu treffen, die vom Nichtdiskriminierungsgebot abwichen. Nach Ablauf dieser Zeit war es dem Rat vorbehalten, eine Verlängerung der Übergangszeit zu beschließen. Dieser Beschluss einer Verordnung des Rates erfolgte erst am 25. Januar 1983, während die Übergangsfrist, in der Einschränkungen nicht erlaubt waren, am 31. Dezember 1982 abgelaufen war. Auch wenn der Rat seiner Verordnung rückwirkende Wirkung gegeben hatte, hat der EuGH die Strafsanktion gegen den dänischen Fischer Kirk, der sich am 6. Januar 1983 in britische Hoheitsgewässer begab, dennoch als Verstoß gegen Art. 7 EMRK gewertet und für unzulässig erklärt.
1. Verortung des Milderungsgebots im Grundsatz „nullum crimen sine lege“ (Art. 7 EMRK) durch den EGMR
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In der Europäischen Menschenrechtskonvention findet sich keine explizite Regelung des Milderungsgebots. Art. 7 EMRK nennt lediglich das Gesetzlichkeitsprinzip und verbietet rückwirkende Strafschärfungen. Allerdings hat die Große Kammer des EGMR[231] in der Rechtssache Scoppala/Italien aus dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot das Milderungsgebot hergeleitet und als Leitsatz formuliert:
„Inzwischen besteht in Europa und darüber hinaus ein Konsens, dass die Anwendung eines späteren milderen Strafgesetzes ein Grundsatz der Strafrechtspflege ist. Dem trägt der Gerichtshof, der früher anders entschieden hatte, Rechnung und bekräftigt, dass Art. 7 EMRK (Keine Strafe ohne Gesetz) nicht nur garantiert, dass strengere Strafvorschriften nicht rückwirkend angewendet werden dürfen, sondern auch, dass mildere Strafgesetze rückwirkend