Europäisches Marktöffnungs- und Wettbewerbsrecht. Peter Behrens
einem „legalistic based approach“ und mit „sound economics“ gemeint war, ergab sich mit aller Deutlichkeit aus den Empfehlungen, die in einem ausführlichen Bericht mit dem Titel „An economic approach to Article 82“ enthalten waren, den die aus Ökonomen zusammengesetzte European Advisory Group on Competition Policy (EAGCP) im Juli 2005 vorlegte[119] und in dem es hieß:
„An economics-based approach to the application of article 82 implies that the assessment of each specific case will not be undertaken on the basis of the form that a particular business practice takes (for example, exclusive dealing, tying, etc.) but rather will be based on the assessment of the anti-competitive effects generated by business behaviour. This implies that competition authorities will need to identify a competitive harm, and assess the extent to which such a negative effect on consumers is potentially outweighed by efficiency gains. The identification of competitive harm requires spelling out a consistent business behaviour based on sound economics and supported by facts and empirical evidence. Similarly, efficiencies – and how they are passed on to consumers – should be properly justified on the basis of economic analysis and grounded on the facts of each case.“
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Montis Nachfolgerin im Amt, Neelie Kroes, übernahm diese Empfehlung, indem sie in einer Rede vom 15. September 2005[120] feststellte:
„Consumer welfare is now well established as the standard the Commission applies when assessing mergers and infringements of the Treaty rules on cartels and monopolies. Our aim is simple: to protect competition in the market as a means of enhancing consumer welfare and ensuring an efficient allocation of resources. An effects-based approach, grounded in solid economics, ensures that citizens enjoy the benefits of a competitive, dynamic market economy.“
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Es geht der Kommission also nicht mehr bloß um die allgemein konsentierte abstrakte Feststellung, dass der funktionsfähige Wettbewerb die gesamtwirtschaftliche Effizienz und insbesondere die Wohlfahrt der Verbraucher fördert, sondern um die Verwendung der Konsumentenwohlfahrt als wettbewerbliches Beurteilungskriterium im konkreten Einzelfall. Seither wird über die normative Legitimation, aber auch über die wirtschaftstheoretische Fundierung des more economic approach intensiv diskutiert.[121] Allerdings sind die programmatischen Aussagen, mit denen die Kommission sich bemüht hat, die Bedeutung dieses Ansatzes in ihren Leitlinien[122] näher zu erläutern, alles andere als klar und konsistent.
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Wenn man die diversen Kommissionsleitlinien daraufhin befragt, was die Kommission dort zum „stärker wirtschaftlichen Ansatz“ ausführt, so erhält man erstaunlicher Weise eine Reihe höchst unterschiedlicher und unscharfer Antworten. Die Leitlinien geben insbesondere keine klare Auskunft über die Frage, ob sich die Kommission die Empfehlungen der EAGCP und die zitierten Äußerungen der Wettbewerbskommissare auch offiziell als programmatische Richtlinien zu Eigen gemacht hat. Bei genauer Analyse des Wortlauts sieht man sich vielmehr mit einer Reihe höchst unterschiedlicher Formulierungen konfrontiert, die eine Vielfalt von Schutzzielen und Beurteilungsmaßstäben ansprechen. Im Wesentlichen lassen sich folgende Ansätze unterscheiden: ein Ansatz, der für die Feststellung eines Wettbewerbsverstoßes in der Tat auf den „Verbraucherschaden“ abstellt (a), ein Ansatz, der auf „negative Marktwirkungen“ abstellt (b), ein Ansatz, der die „Marktmacht“ der beteiligten Unternehmen zum entscheidenden Kriterium erhebt (c), und schließlich ein Ansatz, der an der Beeinträchtigung des „Wettbewerbsprozesses“ festhält (d). Abschließend ist auf die Reaktion des EuGH auf die Vorstellungen der Kommission (e) und die eigentliche forensische Bedeutung des „stärker wirtschaftlichen Ansatzes“ einzugehen (f) sowie ein Fazit zu ziehen (g).
(a) Verbraucherschaden als Tatbestandsmerkmal
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Nach einer klaren programmatischen Aussage, die den Empfehlungen der EAGCP oder dem oben wiedergegebenen Statement von Neelie Kroes entsprechen würde, sucht man in den Kommissionsleitlinien vergeblich. Immerhin finden sich in den Fusionsleitlinien 2004 Ausführungen zu möglichen Effizienzgewinnen bzw. -nachteilen, die bei der Beurteilung von horizontalen Unternehmenszusammenschlüssen berücksichtigt werden sollen. Die Grundlage dafür ist die Neuformulierung des in Art. 2 Abs. 2 und 3 der FKVO 139/2004[123] verwendeten Kontrollmaßstabs („erhebliche Behinderung des Wettbewerbs, insbesondere durch Begründung oder Verstärkung einer beherrschenden Stellung“) sowie der darauf bezogene Erwägungsgrund 29 der Verordnung („Berücksichtigung begründeter und wahrscheinlicher Effizienzvorteile“). In den Fusionsleitlinien 2004 heißt es dementsprechend unter anderem, dass die Kommission bei ihrer Gesamtbewertung eines Zusammenschlusses alle nachgewiesenen Effizienzvorteile berücksichtige.[124] Die Effizienzvorteile müssten allerdings den Verbrauchern zugutekommen[125] bzw. sie würden daran gemessen, dass die Verbraucher durch den Zusammenschluss nicht benachteiligt werden.[126] Hier wird also in der Tat der prognostizierte Verbrauchernachteil zum Tatbestandsmerkmal des Art. 2 Abs. 2 und 2 FKVO erhoben, wenn auch nur im Gewand einer „Effizienzeinrede“. Von einer verallgemeinerungsfähigen programmatischen Aussage im Sinne eines für das gesamte Wettbewerbsrecht der EU maßgeblichen Kriteriums des Verbraucherschadens sind die Fusionsleitlinien 2004 aber weit entfernt. Eine allgemein verständliche Darlegung, dass die Kommission unter dem „stärker wirtschaftlichen Ansatz“ die generelle Ausrichtung des Wettbewerbsrechts an der Konsumentenwohlfahrt versteht, sähe anders aus.
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Entsprechendes gilt auch für die Missbrauchsleitlinien 2009,[127] in denen die Kommission zwar betont, sie werde sich bei der Anwendung von Artikel 82 EG [jetzt: Art. 102 AEUV] auf Behinderungsmissbräuche von Unternehmen in marktbeherrschender Stellung auf diejenigen missbräuchlichen Verhaltensweisen konzentrieren, die den Verbrauchern am meisten schaden. Die Kommission weist jedoch sogleich darauf hin, sie werde bei der Durchsetzung des Wettbewerbsrechts darauf achten, dass die Märkte reibungslos funktionieren und die Verbraucher von der Effizienz und Produktivität profitieren, die ein wirksamer Wettbewerb zwischen Unternehmen hervorbringt.[128] Der zunächst hervorgerufene Eindruck, ein Behinderungsmissbrauch hinge vom Nachweis eines Verbraucherschadens ab, wird also dadurch wieder korrigiert, dass die Verbrauchervorteile letztlich dann doch zutreffend dem „wirksamen Wettbewerb“ zugeschrieben werden, dessen Funktionsfähigkeit die Kommission zu gewährleisten beabsichtigt.
(b) Marktstrukturwirkungen als Beurteilungsmaßstab
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Die Kommission spricht überhaupt nur an zwei Stellen ausdrücklich von einem „ökonomischen Ansatz“, nämlich in den Freistellungsleitlinien 2004.[129] Dort erläutert sie diesen Ansatz im Sinne einer Orientierung an den Marktauswirkungen. Das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EG [jetzt: Art. 101 Abs. 1 AEUV] sei nicht anwendbar, wenn die festgestellten wettbewerbswidrigen Auswirkungen unbedeutend sind. Darin komme der wirtschaftliche Ansatz zum Ausdruck.[130] Damit wird der auch vom ehemaligen Kommissar Monti betonte „Wirkungsansatz“ (effects-based approach) angedeutet, der allerdings so lange nichtssagend ist, wie nicht klargestellt wird, welche Auswirkungen worauf entscheidend sein sollen. Insofern heißt es in den Freistellungsleitlinien 2004 der Kommission konkreter, es komme auf die Auswirkungen auf dem betreffenden Markt an, wobei die Kommission negative Auswirkungen auf die Wettbewerbsparameter (Preise, Produktionsmenge, Innovation oder Vielfalt und Qualität der Waren und Dienstleistungen) in den Vordergrund stellt.[131] In diesem Zusammenhang betont die Kommission aber auch, dass solche Auswirkungen von einer Verminderung des Wettbewerbsdrucks zwischen den Parteien einer Vereinbarung oder zwischen ihnen und Dritten ausgehen können.[132] Derartige Beschränkungen hätten eine Fehlallokation der Ressourcen zur Folge und sie führten auch zu einem Rückgang des Wohlstands der Verbraucher, weil diese höhere Preise für die betreffenden Waren und Dienstleistungen bezahlen müssten.[133]