Europäisches Marktöffnungs- und Wettbewerbsrecht. Peter Behrens
wird deutlich, dass die Kommission einen Wirkungszusammenhang sieht zwischen
– | einer Verminderung des „Wettbewerbsdrucks“ (die nur aus einer Beeinträchtigung des Rivalisierens von Konkurrenten resultieren kann, dh aus einer Verschlechterung der Marktstruktur), |
– | den negativen Auswirkungen auf Preise, Mengen, Qualitäten, Vielfalt und Innovation als den wesentlichen Wettbewerbsparametern, sowie |
– | der Fehlallokation von Ressourcen, dh der Beeinträchtigung der Effizienz und des Wohlstands der Verbraucher (Konsumentenwohlfahrt). |
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Dass ein solcher Wirkungszusammenhang in abstracto besteht, gehört zu den gesicherten Erkenntnissen der Ökonomik, die niemand bestreitet. Ob sich dieser Zusammenhang allerdings auch in concreto derart nachweisen lässt, dass einem ganz bestimmten unternehmerischen Verhalten unmittelbar ganz bestimmte Wohlfahrtswirkungen zugeordnet werden können, steht auf einem ganz anderen Blatt. Das ist bereits weiter oben prinzipiell in Frage gestellt worden (siehe oben Rn. 350 ff.). Der klassische Ansatz bei der Marktstruktur hat nicht zuletzt seinen guten Grund darin, dass schon die Auswirkungen auf die Wettbewerbsparameter nicht umfassend und zuverlässig gemessen werden können, geschweige denn die Veränderungen der Konsumentenwohlfahrt. Nach den programmatischen Formulierungen der Kommission ist ohnehin völlig offen, welchen Aspekt des abstrakten Zusammenhangs zwischen Wettbewerb, Wettbewerbsparametern und Wohlfahrtswirkungen sie letztlich als wettbewerbsrechtlichen Maßstab für die Beurteilung eines konkreten unternehmerischen Marktverhaltens für relevant hält. Ist es die Minderung des „Wettbewerbsdrucks“ unter den Marktteilnehmern, dh die Verschlechterung der Marktstruktur? Sind es die negativen Auswirkungen auf Preise, Mengen, Qualitäten etc.? Oder sind es die Effizienzwirkungen, insbesondere die Auswirkungen auf die Konsumentenwohlfahrt? Die Kommission legt sich in keiner Weise fest. Jedenfalls ist den Kommissionsleitlinien nicht zu entnehmen, dass der „stärker ökonomische Ansatz“, soweit er sich an den „Marktwirkungen“ des jeweils zu beurteilenden Verhaltens orientieren soll, eindeutig und maßgeblich auf die Konsumentenwohlfahrt (den Verbraucherschaden) als Beurteilungskriterium abstellt.
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In ihren neueren Leitlinien tendiert die Kommission denn auch deutlicher zum Schutz „des Wettbewerbs“. So heißt es in den Vertikalleitlinien 2010, das Kartellverbot des Art. 101 AEUV solle sicherstellen, dass Unternehmen bestimmte Vereinbarungen nicht „zur Einschränkung des Wettbewerbs“ und damit „zum Nachteil der Verbraucher“ einsetzen.[134] Ganz ähnlich heißt es in den Horizontalleitlinien 2011, dass Vereinbarungen wettbewerbswidrige Auswirkungen haben, wenn sie „den Wettbewerb zwischen den Parteien der Vereinbarung oder zwischen einer der Parteien und Dritten verringern“ bzw. wenn sie die Parteien „in ihrer Entscheidungsfreiheit einschränken“.[135]
(c) Marktmacht als Wettbewerbskriterium
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In einer Reihe von Leitlinien erläutert die Kommission durchaus, dass es ihr bei der Beurteilung der Marktwirkungen eines bestimmten unternehmerischen Verhaltens um marktstrukturelle Erwägungen gehe. Das sagt sie teils ausdrücklich, teils lässt es sich daraus ableiten, dass die Kommission dem Kriterium der Markmacht entscheidende Bedeutung beimisst. Dafür stehen zunächst die Horizontalleitlinien 2011, in denen die Kommission darlegt, dass die Marktmacht der Beteiligten und andere Merkmale der Marktstruktur ein wesentlicher Bestandteil bei der Ermittlung der von einer Koordinierung des Marktverhaltens zu erwartenden Auswirkungen und damit für eine Bewertung gem. Art. 101 AEUV sei.[136] Marktmacht sei die Möglichkeit, den Markt hinsichtlich Preisen, Produktion, Innovation oder Vielfalt sowie Qualität der Waren und Dienstleistungen negativ zu beeinflussen.[137] Und ganz ähnlich heißt es in den Freistellungsleitlinien 2004, dass negative Auswirkungen auf den Wettbewerb im relevanten Markt häufig dann entstünden, wenn die Parteien einzeln oder gemeinsam ein gewisses Maß an Marktmacht hätten oder erlangten und die Kartellvereinbarung zur Begründung, Erhaltung oder Stärkung dieser Marktmacht beitrüge, oder es den Parteien ermögliche, diese Marktmacht auszunutzen.[138]
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In diesem Zusammenhang charakterisiert die Kommission Wettbewerbsbeschränkungen bemerkenswerter Weise auch dadurch, dass sie „negative Auswirkungen auf den Wettbewerb“ haben und konkretisiert diese negativen Auswirkungen wiederum durch den Aspekt der Marktmacht. Es ist dann die durch eine Beschränkung des Wettbewerbs erlangte oder verstärkte Marktmacht, welche die negativen Auswirkungen auf Preise, Mengen, Qualitäten etc. zur Folge hat. Daran ist bemerkenswert, dass diese Auswirkungen nicht mehr direkt an das zu beurteilende unternehmerische Verhalten angeknüpft werden, sondern an die aus diesem Verhalten resultierende Veränderung der Marktstruktur. Marktmacht ist stets ein Indikator für deren Verengung. Die genannten Auswirkungen sind also vermittelt durch die Marktstruktur, deren Verengung das Ergebnis des wettbewerbsbeschränkenden Verhaltens ist. Die marktstrukturellen Wirkungen sind hiernach das eigentlich maßgebliche Kriterium für die wettbewerbliche Beurteilung eines konkreten Verhaltens von Unternehmen.
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Das ergibt sich auch aus den Fusionsleitlinien 2004, wo die Kommission betont, dass ein wirksamer Wettbewerb den Verbrauchern Vorteile bringe, zum Beispiel in Form niedriger Preise, hochwertiger Produkte, einer großen Auswahl an Waren und Dienstleistungen und Innovation. Mit der Fusionskontrolle verhindere die Kommission Zusammenschlüsse, die geeignet wären, den Verbrauchern diese Vorteile vorzuenthalten, indem die Marktmacht der Unternehmen spürbar erhöht würde.[139] Damit greift die Kommission zum Zweck der Konkretisierung dessen, was sie unter wirksamem Wettbewerb versteht, erneut auf den Gesichtspunkt der Marktstruktur zurück, indem sie die Begründung oder Verstärkung der Marktmacht der beteiligten Unternehmen zum entscheidenden Maßstab erhebt. Es bedarf keiner Betonung, dass dies etwas anderes ist als eine klare und direkte Orientierung am Kriterium der Konsumentenwohlfahrt. Es geht insoweit vielmehr um die Aufrechterhaltung einer für die Wirksamkeit des Wettbewerbs hinreichend offenen Marktstruktur.
(d) Der Wettbewerbsprozess als Schutzziel
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Am weitesten entfernt sich die Kommission vom Kriterium der Konsumentenwohlfahrt dort, wo sie ausdrücklich davon spricht, dass es ihr um den Schutz des Wettbewerbs bzw. des Wettbewerbsprozesses als solchen geht. So formuliert sie in den Freistellungsleitlinien 2004, Art. 81 EG [jetzt: Art. 101 AEUV] solle den Wettbewerb im Markt schützen, um den Wohlstand der Verbraucher zu fördern und eine effiziente Ressourcenallokation zu gewährleisten. Wettbewerb und Marktintegration dienten diesen Zielen, da die Schaffung und Erhaltung eines offenen Binnenmarkts eine effiziente Ressourcenallokation in der gesamten Gemeinschaft zum Wohle der Verbraucher fördere.[140] Die Kommission setzt hier also den Wettbewerb im Markt einerseits und die Konsumentenwohlfahrt sowie die Allokationseffizienz andererseits derart zueinander in Bezug, dass die Wohlfahrts- bzw. Effizienzwirkungen als Folgen des Wettbewerbs erscheinen. Diese Wirkungen werden dadurch gewährleistet, dass der Wettbewerb geschützt wird, und nicht dadurch, dass man ineffizientes Verhalten von Unternehmen untersagt.
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Deutlich wird dies auch aus den Missbrauchsleitlinien 2009, wo die Kommission ausdrücklich darlegt, sie wolle mit ihrem Vorgehen im Falle von Behinderungsmissbrauch in erster Linie den Wettbewerbsprozess im Binnenmarkt schützen und sicherstellen, dass Unternehmen in marktbeherrschender Stellung ihre Wettbewerber nicht durch andere Mittel als die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Produkte bzw. Dienstleistungen vom Markt ausschließen. Dabei gehe es der Kommission