Europäisches Marktöffnungs- und Wettbewerbsrecht. Peter Behrens
Wettbewerbspolitische Leitbilder
Literatur:
Mason Price and Production Policies of Large-Scale Enterprises, American Economic Review 29 (1939) 61; Ders. The Current Status of the Monopoly Problem in the United States, Harvard Law Review 62 (1949) 1281; von Mises Human Action (1949), deutsch: Nationalökonomie – Theorie des Handelns und Wirtschaftens (1980); Chamberlin The Theory of Monopolistic Competition (6th ed. 1950); Bain Barriers to New Competition (1956); Clark Competition as a Dynamic Process (1961); Schumpeter Die Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung (6. Aufl. 1964); Williamson Economies as an Antitrust Defense: The Welfare Trade-Offs, American Economic Review 58 (1968) 18, Wiederabdruck in: Ders. Antitrust Economics (1987) 3; von Hayek Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, in: Kieler Vorträge, N.F. 56 (1968), Nachdruck in: Freiburger Studien – Gesammelte Aufsätze von F.A. von Hayek (1969) 249;Ders. Individualismus und wirtschaftliche Ordnung (1976); Bork The Antitrust Paradox – A Policy at War with Itself (1978); Armentano Antitrust and Monopoly – Anatomy of a Policy Failure (1982); Baumol/Panzar/Willig Contestable Markets and the Theory of Industry Structure (1982); Scherer/Ross Industrial Market Structure and Economic Performance (3rd ed. 1990); Amato Antitrust and the Bounds of Power – The Dilemma of Liberal Democracy in the History of the Market (1997); Posner Antitrust Law (2nd ed. 2001); Carlton/Perloff Modern Industrial Organization (4th ed. 2005); Drexl Wettbewerbsverfassung, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht (2009) 905; Herdzina Wettbewerbspolitik (5. Aufl. 1999); Schmidt/Haucap Wettbewerbspolitik und Kartellrecht (10. Aufl. 2013); Kerber/Schwalbe Die ökonomischen Grundlagen des Wettbewerbsrechts, in: MüKoEuWettbR (2. Aufl. 2015), Einl. B., 22, Rn. 67 ff.
1. Ausgangspunkt
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Nach der schon von Adam Smith formulierten Konzeption ist Wettbewerb ein wirtschaftlicher Prozess des Rivalisierens von Konkurrenten um die Gunst der Marktgegenseite.[33] Dieser Prozess erhält seine Antriebkraft aus dem natürlichen Profitstreben der Marktteilnehmer (Unternehmen). Sofern sie hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Entscheidungen nur hinreichend frei (autonom) sind, treten die Anbieter von Waren oder Leistungen schon aus natürlichem Eigennutz in Wettbewerb miteinander, um die Nachfrage der Abnehmer von Waren oder Leistungen auf sich zu lenken. Entsprechendes gilt in gewissem Maße auch für die Nachfrager im Verhältnis zu den Anbietern.[34] Der Wettbewerb hat also seine Grundlage in der wirtschaftlichen Handlungsautonomie der Marktteilnehmer und ihrer profitorientierten Motivation. Aus der Wahrnehmung dieser Handlungsautonomie durch die Marktteilnehmer entsteht ein dynamisches System von Aktionen und Reaktionen der Anbieter und Nachfrager von Gütern und Leistungen. Dieses Interaktionssystem zwingt die Marktteilnehmer zur ständigen Suche nach verbesserten Problemlösungen (im Sinne neuer Produkte und Produktionsverfahren). Der Wettbewerb ist daher ein Entdeckungsverfahren.[35] Dieses Verfahren führt entsprechend den oben erläuterten Funktionen des Wettbewerbs langfristig zu Marktergebnissen, die dem Effizienz- und Wachstumsziel entsprechen. Wirtschaftlicher Wettbewerb garantiert also allokative Effizienz im Sinne der optimalen Anpassung der Produktion an die Konsumentenpräferenzen (Präferenzgerechtigkeit), produktive Effizienz im Sinne eines optimalen Einsatzes vorhandener Produktionsmittel (Kosteneffizienz) sowie dynamische Effizienz (Wachstum), dh Erhöhung der Produktivität der Produktionsfaktoren und der Qualität der Produkte durch Innovation. Dabei wird auch die Verteilung der Güter und Ressourcen, die sich unter den Bedingungen des Wettbewerbs ergibt, im Prinzip als gerecht angesehen, weil sie auf der Leistung der Marktteilnehmer beruht.
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Die allgemeine Aufgabe der staatlichen Wettbewerbspolitik besteht demgemäß darin, die Funktionsfähigkeit des auf der individuellen wirtschaftlichen Freiheit (Autonomie) der Marktteilnehmer beruhenden wettbewerblichen Interaktionssystems zu gewährleisten und es vor Funktionsstörungen zu schützen.[36] Solche Funktionsstörungen können ihre Ursache zum einen in (heteronomen) staatlichen Regulierungen haben, die den Marktteilnehmern ein bestimmtes wirtschaftliches Verhalten gebieten oder verbieten. Sie können ihre Ursache aber auch im (privatautonomen) Verhalten der Marktteilnehmer selbst haben, indem sie sich selbst hinsichtlich der zukünftigen Wahrnehmung ihrer Handlungsautonomie (etwa durch Verträge) binden bzw. andere in der Wahrnehmung ihrer Handlungsautonomie (u.U. auch durch einseitige Maßnahmen) beeinträchtigen. Vertragliche Selbstbindungen wie auch Beeinträchtigungen anderer sind nun allerdings nicht nur Ausdruck von Beschränkungen des Wettbewerbs, sondern zugleich auch ein wesentliches Element desselben. Zum einen sind die Austauschbeziehungen auf Wettbewerbsmärkten typischerweise in der Rechtsform von Verträgen organisiert, durch die sich die Parteien rechtlich binden; und das konkurrierende Verhalten von Marktteilnehmern hat zwangläufig auch nachteilige Folgen für die anderen Marktteilnehmer, insbesondere wenn sie weniger leistungsfähig sind. Niemand ist dagegen geschützt, dass er wettbewerbsbedingte Nachteile erleidet, weil ein Konkurrent am Markt erfolgreicher ist als er selbst. Und es ist nicht Aufgabe der Wettbewerbspolitik, diejenigen zu sanktionieren, die am Markt aufgrund ihrer Leistungen erfolgreich sind. Die zentrale Aufgabe von Wettbewerbspolitik und -recht besteht daher darin, wettbewerbswidrige von wettbewerbskonformen Verhaltensweisen abzugrenzen. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, bedarf es eines „Leitbilds“ von einem funktionsfähigen Wettbewerb, in dem die Kriterien zusammengefasst sind, an denen sich die Rechtsanwendungsorgane bei der Anwendung der rechtlichen Regeln und Maßnahmen zum Schutz des Wettbewerbs als Prozess bzw. als dynamisches Interaktionssystem orientieren können.
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Die Wettbewerbstheorie hat sich mit der Frage nach den Bedingungen auseinandergesetzt, unter denen die erwünschten Marktergebnisse (im Sinne allokativer, produktiver und dynamischer Effizienz) tatsächlich eintreten. Zu diesem Zweck hat man zunächst die Hypothese aufgestellt, dass bestimmte Marktergebnisse vom Marktverhalten der Unternehmen bezüglich der Preisbildung, der Produktstrategie, der Forschung und Entwicklung oder der Investitionen abhängen. Das Marktverhalten seinerseits ist – wie die mikroökonomische Analyse gezeigt hat – nicht unabhängig von der Marktstruktur. Diese wiederum wird insbesondere durch die Zahl der am Markt aktiven Anbieter und Nachfrager, durch etwaige Marktzutrittsschranken für potentielle Wettbewerber, durch die Kostenstrukturen oder durch den Grad der vertikalen Integration von Unternehmen der jeweils vor- und nachgelagerten Marktstufen bestimmt.[37] Insgesamt sind die Ergebnisse des Wettbewerbssystems schließlich von bestimmten Basis- oder Rahmenbedingungen abhängig wie der Verfügbarkeit von Rohstoffen und der jeweiligen Produktionstechnologie, aber auch von den institutionellen (insbesondere: rechtlichen) Gegebenheiten einschließlich der wirtschaftspolitischen Steuerung und Regulierung durch den Staat. So ergibt sich folgendes heuristisches Gesamtschema:[38]
Schaubild 18:
Heuristisches Gesamtschema zum Wettbewerbssystem
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Es stellt sich nun die grundlegende Frage, woran sich die Wettbewerbspolitik und das in ihrem Dienst stehende Wettbewerbsrecht sinnvoller Weise orientieren sollen. Zunächst einmal muss es um die Marktkonformität der Rahmenbedingungen gehen, insbesondere soweit sie durch die staatliche Wirtschaftspolitik beeinflusst werden (dazu im Folgenden 2.). Sodann geht es um die Wettbewerbskonformität des Verhaltens der Marktteilnehmer selbst. Als Beurteilungsmaßstab („Test“) dafür, ob im Einzelfall der Wettbewerb durch die Marktteilnehmer beschränkt ist oder nicht, kommen die Marktstruktur („Marktstrukturtest“), das Marktverhalten („Marktverhaltenstest“) oder das Marktergebnis („Marktergebnistest“) in Betracht (dazu im Folgenden 3.). Im Übrigen sind dem Europäischen Unionsrecht normative