Europäisches Marktöffnungs- und Wettbewerbsrecht. Peter Behrens
Simon „bounded rationality“, in: Eatwell/Milgate/Newman (eds.) The New Palgrave – A Dictionary of Economics, Vol. I (1987) 266; Conlisk Why bounded rationality? Journal of Economic Literature 34 (1996) 669; Heise Ende der neoklassischen Orthodoxie? Wieso ein methodischer Pluralismus gut täte, Wirtschaftsdienst 2007, 442; Mestmäcker/Schweitzer Europäisches Wettbewerbsrecht (3. Aufl. 2014) § 3 Wettbewerb der Unternehmen, VII. Grenzen ökonomischer Wohlfahrtstheorien, 83 ff.
1. Relativierung des Rationalitätsaxioms
311
Die bisher vorgestellte mikroökonomische Analyse des Marktverhaltens von Unternehmen basiert weitgehend auf der traditionellen „neoklassischen“ Wohlfahrtstheorie, die ihren modellhaften Ableitungen die Annahme zugrunde legt, dass das Handeln aller Marktteilnehmer zielgerichtet an der Profitmaximierung orientiert ist (Rationalitätsaxiom), dass es auf der optimalen Verarbeitung aller relevanten Informationen beruht, und dass Markttransaktionen nicht mit besonderen Kosten verbunden sind (insgesamt: Modell des homo oeconomicus). Nur auf der Basis dieser Axiome lassen sich die einzelwirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Kalküle, die sowohl der Analyse des unternehmerischen Entscheidungsverhaltens als auch der Auswirkungen unterschiedlicher Marktformen (Marktstrukturen) auf dieses Verhalten zugrunde liegen, logisch konsistent ableiten. Nur unter der Geltung dieser Annahmen sind nämlich Marktteilnehmer in der Lage, sich so zu verhalten wie es die neoklassische Ökonomie von ihnen im Hinblick auf optimale (effiziente) Investitions-, Produktions- und Absatzentscheidungen erwartet. Nur auf der Grundlage des Modells des homo oeconomicus ist die neoklassische ökonomische Theorie daher auch in der Lage, die gesamtwirtschaftliche Effizienz aus der Effizienz des einzelwirtschaftlichen Handelns der Unternehmen abzuleiten.
312
Der neoklassische Ansatz blendet allerdings im Interesse der Stringenz seiner Ableitungen wesentliche Aspekte des tatsächlichen Verhaltens von Marktteilnehmern aus. Das ist legitim, wenn es darum geht, modellhaft grundlegende Wirkungszusammenhänge zu verstehen, die das Verhalten von Unternehmen auf Märkten bestimmen. Die neoklassische Theorie hat auf diesem Wege eindrucksvolle Erkenntnisse hervorgebracht. Und die Prognosekraft des Modells ist durchaus beachtlich. Allerdings muss Klarheit darüber bestehen, dass die Prognosen, die aufgrund des neoklassischen Ansatzes möglich sind, den Charakter statistischer Durchschnittsvorhersagen haben. Es handelt sich um abstrakte Mustervoraussagen, die sich nicht auf bestimmte Ergebnisse unternehmerischen Handelns im einzelnen Fall erstrecken. Die Folgen eines konkreten Marktverhaltens hängen vielmehr von der Gesamtheit der über den Markt vermittelten Reaktionen und Interaktionen aller Marktteilnehmer ab. Wenn aber der neoklassische Ansatz ungeeignet ist, um die konkreten Wirkungen des Marktverhaltens eines bestimmten Unternehmens und die mit diesem Verhalten verfolgten unternehmerischen Zwecke einzuschätzen,[22] dann ist dafür ein umfassenderer Ansatz erforderlich, der auch Bestimmungsfaktoren unternehmerischen Verhaltens einbezieht, die realitätsnäher sind. Ein solcher Ansatz ist zwar notwendigerweise weniger stringent als ein neoklassisches Modell. Für das Verständnis des tatsächlichen Verhaltens von Unternehmen auf Wettbewerbsmärkten, um dessen wettbewerbliche Beurteilung es geht, ist er aber wesentlich angemessener und deshalb unverzichtbar. Neuere ökonomische Forschungsrichtungen haben sich um die Erkenntnis der tatsächlichen Bestimmungsfaktoren des menschlichen Verhaltens und um Konzepte für deren Bewältigung durch rechtliche Institutionen bemüht. Die bisherigen Ergebnisse dieser Bemühungen sind für das Verständnis des Wettbewerbsverhaltens von Marktteilenehmern und damit für die Formulierung und Anwendung der Wettbewerbsregeln von fundmentaler Bedeutung.
2. Verhaltensökonomik
Literatur:
Simon Models of Man – Social and Rational (1957); Ders., „behavioral economics“, in: Eatwell/Milgate/Newman (eds.) The New Palgrave – A Dictionary of Economics, Vol. I (1987) 221; Ders. „bounded rationality“, aaO 266; Conlisk Why bounded rationality? Journal of Economic Literature 34 (1996) 669; Sunstein (ed.) Behavioral Law & Economics (2000); Fehr/Schwarz Psychologische Grundlagen der Ökonomie (3. Aufl. 2003); Eidenmüller Der homo oeconomicus und das Schuldrecht: Herausforderungen durch Behavioral Law and Economics, JZ 2005, 216; Wagner-von Papp Marktinformationsverfahren: Grenzen der Information im Wettbewerb (2004), E. Experimentelle Ökonomie und „Behavioral Econcomics“, 114 ff.; Pesendorfer Behavioral Economics Comes of Age: A Review Essay on Advances in Behavioral Economics, Journal of Economic Literature 44 (2006) 712; Wurmnest Marktmacht und Verdrängungsmissbrauch (2. Aufl. 2010) 188 ff.
313
Die junge Disziplin der experimentellen Verhaltensökonomik (behavioral economics), die den Realitätsgehalt der im Modell des homo oeconomicus enthaltenen Annahmen empirisch zu testen versucht, belegt, dass das tatsächliche Entscheidungsverhalten von Menschen mit den im Modell enthaltenen Rationalitätsannahmen häufig nicht übereinstimmt. Es fehlt in der Regel an vollständiger Information über die Handlungsalternativen, auch ist die Informationsverarbeitungskapazität in der Regel begrenzt, es besteht Unsicherheit über die Handlungsfolgen. Der Handelnde ist sich oft nicht einmal selbst im Klaren über seine Präferenzen und deren Verhältnis zueinander. In diesem Sinne kann man in der Realität nur von einer eingeschränkten Rationalität (bounded rationality)[23] sprechen. Auch die von der streng neoklassisch (dh auf das Basis des Rationalitätsaxioms argumentierenden) Chicago-School of Antitrust[24] vertretene Hypothese, dass jedenfalls „der Markt“ als Gesamtheit aller Transaktionen zwischen den Marktteilnehmern sämtliche verfügbaren Informationen vollständig verarbeite und daher insgesamt „effizient“ sei (efficient market theory), ist durch die 2008 einsetzende „Finanzkrise“ empirisch widerlegt.
314
Empirische Untersuchungen haben in vielen Fällen gezeigt, dass das tatsächliche Verhalten von Menschen gemessen am Modell des homo oeconomicus Anomalien aufweist. Die Befunde haben bislang zwar nicht zu einem „konkurrenzfähigen“ theoretischen Modell geführt, dessen analytische Kraft mit dem Modell des homo oeconomics vergleichbar wäre. Für die Bewertung menschlichen Verhaltens und gerade auch für die wettbewerbliche Bewertung des Marktverhaltens von Unternehmen sind sie aber von erheblicher Bedeutung. So ist beispielsweise die im Konzept der allokativen Effizienz enthaltene Annahme, dass die Wahlhandlungen von Marktteilnehmern ihre wahren Präferenzen reflektieren, zumindest hinsichtlich ihrer generellen Geltung empirisch widerlegt.[25] Man muss daher davon ausgehen, dass im Hinblick auf die konkrete Beurteilung des unternehmerischen Verhaltens auf Wettbewerbsmärkten eine zutreffende Effizienzanalyse nicht ohne weiteres möglich ist und schon gar nicht umstandslos von der einzelwirtschaftlichen Effizienz auf die gesamtwirtschaftliche Effizienz geschlossen werden kann.
3. Transaktionskostenökonomik
Literatur:
Coase The Nature of the Firm, Economica, N.S. IV (1937) 386; Ders. The Problem of Social Cost, J. Law & Econ. 3 (1960) 1, deutsch: Das Problem der sozialen Kosten, in: Assmann/Kirchner/Schanze (Hrsg.) Ökonomische Analyse des Rechts (1978) 146; Williamson, Markets and Hierarchies – Analysis and Antitrust Implications (1975); Ders. Die ökonomischen Institutionen des Kapitalismus (1990); Richter/Furubotn Neue Institutionenökonomik (3. Aufl. 2003).
315
Das neoklassische Rationalitätsmodell weicht in einem weiteren Punkt, der zentral für das Verständnis des Marktverhaltens von Unternehmen ist, von der Realität ab, indem es die Existenz von Transaktionskosten bewusst vernachlässigt.[26] Alle Transaktionen, die von Produzenten oder Abnehmern durchgeführt werden, sind unvermeidlich mit Kosten (Transaktionskosten) verbunden, gleichgültig ob es sich um marktförmige