Europäisches Marktöffnungs- und Wettbewerbsrecht. Peter Behrens
die aber wesentliche Aspekte des tatsächlichen Wettbewerbsverhaltens von Markteilnehmern ausblenden, so dass ein ausschließlich neoklassischer Ansatz den in der Wettbewerbspolitik und im Wettbewerbsrecht zu lösenden Problemen nicht angemessen ist. So wenig wie sich in der Regel die gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtswirkungen eines konkreten unternehmerischen Verhaltens bestimmen lassen, so wenig präzise lassen sich auch die Wohlfahrtwirkungen von Eingriffen der staatlichen Wettbewerbspolitik bestimmen.
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Die bereits (oben Rn. 313 f.) erwähnte Verhaltensökonomik (behavioural economics), die den Realitätsgehalt der im Modell des homo oeconomicus enthaltenen Annahmen empirisch zu testen versucht, hat gezeigt, dass die Marktteilnehmer sich häufig nicht einmal über ihre Präferenzen im Klaren sind, die ihren Marktentscheidungen zugrunde liegen, und schon gar nicht über deren Verhältnis zueinander. Auch die im neoklassischen Verhaltensmodell enthaltene Annahme, dass die Wahlhandlungen von Marktteilnehmern (hier: Konsumenten) ihre wahren Präferenzen reflektieren, ist zumindest hinsichtlich ihrer generellen Geltung empirisch widerlegt.[62] Daraus folgt, dass sogar die Hypothese, freie Märkte maximierten stets die Effizienz im Sinne der Konsumentenwohlfahrt, der Relativierung bedarf. „Die Institution des Marktes maximiert zwar die Konsumentensouveränität – damit geht aber nicht notwendigerweise auch die Maximierung der Konsumentenwohlfahrt einher.“[63] Diese Erkenntnis zwingt dazu, der Handlungsautonomie der Marktteilnehmer, die für den Wettbewerb konstitutiv ist, im Rahmen des wettbewerbspolitischen Leitbildes einen Eigenwert zuzubilligen, der vom konkreten Ergebnis des Marktverhaltens unabhängig ist. Zu schützen ist daher der Wettbewerb als ein Interaktionssystem, das zwar als solches langfristig Effizienz garantiert, das aber in der Regel die Zurechnung von Effizienzwirkungen zu einzelnen unternehmerischen Wettbewerbshandlungen ausschließt.
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Die (neue) Institutionenökonomik hat im Übrigen zu Recht auf die Bedeutung von Transaktionskosten, unvollständiger Information und Erwartungsunsicherheit für das tatsächliche Verhalten von Marktteilnehmern hingewiesen (siehe dazu oben Rn. 315 f., 317 ff.). Für die wettbewerbliche Beurteilung des konkreten Marktverhaltens eines Unternehmens können diese Faktoren, insbesondere die in der Realität vorhandenen Rationalitätsbeschränkungen (bounded rationality), nicht außer Acht gelassen werden. Dies gilt insbesondere für die Beurteilung der privatrechtlichen Rechtsgeschäfte (insbesondere Verträge), in deren Gestalt Wettbewerbsbeschränkungen gewöhnlich auftreten und deren wettbewerbliche Ambivalenz daraus resultiert, dass sie in der Regel gerade der Bewältigung von Transaktionskosten und Rationalitätsbeschränkungen dienen. Während daher im neoklassischen Modell der Schluss von der einzelwirtschaftlichen auf die gesamtwirtschaftliche Effizienz möglich erscheint, ist dies aus der Sicht der (neuen) Institutionenökonomik nicht möglich. Es klafft unvermeidlich eine Lücke zwischen einzelwirtschaftlicher Rationalität und gesamtwirtschaftlicher Effizienz.[64]
d. Fazit
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Die Erörterung der für die Feststellung von Wettbewerbsbeschränkungen in Frage kommenden Maßstäbe zeigt, dass sie sich nicht auf einen einzigen Gesichtspunkt reduzieren lassen:[65] Wettbewerb besteht in einem Marktverhalten, das auf der wirtschaftlichen Handlungsautonomie der Marktteilnehmer beruht. Sie ist die Grundlage des dynamischen Rivalitätsprozesses, der den Wettbewerb ausmacht und der daher des Schutzes der Wettbewerbspolitik und des Wettbewerbsrechts gegen Beschränkungen durch die Marktteilnehmer bedarf. Das unternehmerische Wettbewerbsverhalten der Marktteilnehmer ist aber nicht unabhängig von der Marktstruktur. Je enger die Marktstruktur und je höher die Marktzutrittsschranken, desto geringer ist in der Regel die Intensität des Wettbewerbs im Sinne eines auf individueller Handlungsautonomie beruhenden Rivalitätsprozesses. In der Marktstruktur kommen die wettbewerblichen Handlungsspielräume der Marktteilnehmer (Anbieter und Nachfrager) insgesamt zum Ausdruck. Sie bildet gewissermaßen das wettbewerbliche Interaktionssystem ab, innerhalb dessen sich die Handlungsautonomie der Marktteilnehmer verwirklichen kann. Daher sind Beschränkungen des Wettbewerbs letztlich nicht ohne Rückgriff auf marktstrukturelle Gesichtspunkte feststellbar. Sie signalisieren die Drittwirkungen etwaiger Beschränkungen der Handlungsautonomie, die allein es rechtfertigen, dass sie aufgrund der staatlichen Wettbewerbspolitik unterbunden werden. Das gilt selbst für die Fälle sogenannter Kernbeschränkungen, deren Wettbewerbswidrigkeit nur deshalb keine konkrete Feststellung marktstruktureller Drittwirkungen erforderlich ist, weil sie erfahrungsgemäß mit der Beschränkung der Handlungsautonomie zwingend verbunden sind.
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Dagegen eignet sich der Gesichtspunkt der gesamtwirtschaftlichen Effizienz, die das vom System des Wettbewerbs als solchen erwartete ökonomische Marktergebnis darstellt (sowohl im Sinne der allokativen Effizienz, dh der Präferenzgerechtigkeit der Produkte, als auch der produktiven Effizienz, dh der Kosteneffizienz der Produktionsverfahren, sowie der dynamischen Effizienz, dh der Entwicklung neuer Produkte und Produktionsverfahren) nicht zur Beurteilung der Wettbewerbswidrigkeit oder -konformität unternehmerischen Verhaltens im Einzelfall. Es ist davon auszugehen, dass angesichts der begrenzten direkten Messbarkeit und Prognostizierbarkeit der gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrtseffekte eines bestimmten Marktverhaltens die Treffsicherheit der Entscheidungen von Kartellbehörden und -gerichten eher vermindert als verbessert würde. Vielmehr müssen Wettbewerbspolitik und Wettbewerbsrecht von der Prämisse ausgehen, dass die Effizienz des wettbewerblichen Rivalitätsprozesses insgesamt am besten gewährleistet wird, wenn die Funktionsfähigkeit eben dieses Prozesses geschützt wird. So hat selbst Posner als prominenter Repräsentant der „Chicago School of Antitrust“ konzediert, dass Effizienz zwar das Endziel des Wettbewerbsrechts sei, der Schutz des Wettbewerbs aber regelmäßig ein Zwischenziel darstelle, das dem Effizienzziel hinreichend nahe komme, um den Behörden und Gerichten zu erlauben, bei der Prüfung unternehmerischen Verhaltens nicht darüber hinaus zu gehen.[66] Dies deckt sich mit den Erkenntnissen der (neuen) Institutionenökonomik, die auf die Bedeutung von Transaktionskosten, unvollständiger Information und Erwartungsunsicherheit für das Marktverhalten von Unternehmen hingewiesen hat; und es trifft sich auch mit den neuesten Erkenntnissen der empirischen Verhaltensökonomik, die der Annahme widersprechen, dass die Wahlhandlungen von Marktteilnehmern (Konsumenten) stets deren wahre Präferenzen reflektieren. Die eingeschränkte Rationalität (bounded rationality) der Marktteilnehmer verhindert somit, dass sich die gesamtwirtschaftliche Effizienz eines bestimmten Marktverhaltens aus der einzelwirtschaftlichen Effizienz von Unternehmen oder aus dem Kaufverhalten von Konsumenten ableiten lässt.
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Dies schließt nicht aus, dass der ökonomischen Wirkungsanalyse bei der wettbewerblichen Beurteilung unternehmerischen Verhaltens insoweit eine zentrale Bedeutung zukommt, als es darum geht, die ökonomische Rationalität einzuschätzen, die dem zu beurteilenden unternehmerischen Verhalten in seinem jeweiligen Kontext innewohnt, um daraus auf die mit diesem Verhalten verfolgten Zwecke und die sich daraus ergebenden Wirkungen für den Wettbewerb als Entdeckungsverfahren schließen zu können (Kontextanalyse). Es ist zu berücksichtigen, dass Unternehmen legitimerweise stets bemüht sind, Transaktionskosten zu minimieren sowie Informationsdefizite und Erwartungsunsicherheiten zu bewältigen. Wettbewerbswidrig werden solche Strategien aber dann, wenn sie systemwidrige marktstrukturelle Drittwirkungen haben. Bei der Beurteilung des Marktverhaltens von Unternehmen kann dessen Wettbewerbswidrigkeit bzw. -konformität im konkreten Fall daher nur aufgrund einer sorgfältigen Analyse der jeweiligen Entscheidungssituation festgestellt werden, in der sich das betreffende Unternehmen befindet und auf die es mit seinem Verhalten reagiert. Dafür ist in objektiver Hinsicht insbesondere die ökonomische Analyse der Anreizstrukturen, mit denen das betreffende Unternehmen konfrontiert ist, der verwendeten Methoden (insbesondere der Vertragsgestaltung) zur Minimierung von