Ius Publicum Europaeum. Paul Craig
(dazu unter g) stellen gegenwärtig die größten Herausforderungen an die Verwaltungsorganisation dar.
56
Zentrale Figur des europäischen Verwaltungsorganisationsrechts ist der Verwaltungsträger (collectivité, ente pubblico).[85] Im kontinentaleuropäischen Verwaltungsrecht – das britische Verwaltungsrecht kennt bekanntlich die Figur des Staates als juristischer Person nicht – versteht man darunter in der Regel das von der natürlichen Person des Amtswalters zu unterscheidende Zurechnungssubjekt seines Handelns, eine juristische Person des öffentlichen Rechts oder eine Behörde, die Träger von Rechten und Pflichten eines Verwaltungsrechtsverhältnisses sein kann. Hinsichtlich der juristischen Personen unterscheidet man, unbeschadet weiterer nationaler Kategorisierungen, darüber hinaus regelmäßig zwischen Gebietskörperschaften und sonstigen Einrichtungen.
b) Staatliche Verwaltung
57
Rückgrat der Verwaltungsorganisation ist die als Einheit gedachte staatliche Verwaltung, d.h. auf dem Kontinent die dem Staat als juristischer Person des öffentlichen Rechts zugeordnete und von ihm getragene Verwaltung. Sie ist hierarchisch gegliedert (sogenanntes Linienmodell) und – in der Regel kraft verfassungsrechtlicher Anordnung[86] – der parlamentarisch verantwortlichen Regierung nachgeordnet.[87]
58
Die Steuerung der Verwaltung durch die Regierung erfolgt mit Hilfe der Rechtsetzung sowie mit den Instrumenten der Rechts-, Fach- und Dienstaufsicht.[88] Die Wurzeln dieses Modells reichen bis in die Zeit der Monarchie zurück. Gleichwohl hat es seine zentrale Rolle auch unter den republikanischen bzw. demokratischen Verfassungen keineswegs verloren, weil es die Vorstellung von der Einheit der Staatsgewalt operabel macht,[89] in idealtypischer Weise die Erledigung von Verwaltungsaufgaben unter der Kontrolle von Regierung und Parlament gewährleistet und damit zugleich für die demokratische Legitimation der öffentlichen Verwaltung sorgt.
59
Der hierarchische Behördenaufbau ist wichtigster Bezugspunkt für die parlamentarische Steuerung und Kontrolle des Verwaltungshandelns und für die – an apostolische Vorstellungen angelehnte[90] – Idee einer ununterbrochenen Legitimationskette vom Volk über das Parlament bis zum einzelnen Amtswalter und insoweit Grundlage bürokratischer Herrschaft im Sinne Max Webers. In der Regel ist der hierarchische Behördenaufbau auch das verfassungsrechtliche Grundmodell.[91] Abweichungen von diesem Modell bedeuten nach verbreiteter Ansicht daher eine Entdemokratisierung des Verwaltungshandelns[92] und sind insoweit rechtfertigungsbedürftig.[93]
aa) Unmittelbare Staatsverwaltung
60
Die – in deutscher Terminologie unmittelbare – Staatsverwaltung ist typischerweise mehrstufig aufgebaut und in ihren Grundzügen häufig verfassungsrechtlich vorgegeben.[94] Die Ansiedelung der nachgeordneten Behörden und Einrichtungen an der Peripherie[95] orientiert sich in der Regel an den Untergliederungen des jeweiligen Staates. Die Zuständigkeiten der nachgeordneten und insoweit näher am Bürger angesiedelten Behörden ist in den vergangenen Jahren in fast allen Verwaltungsrechtsordnungen ausgebaut worden (Dekonzentration, déconcentration).[96]
61
Die konkrete Ausgestaltung des mehrstufigen Verwaltungsaufbaus variiert erheblich zwischen den einzelnen Verwaltungsrechtsordnungen. In Deutschland findet man sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene eine idealtypisch dreistufige Verwaltung mit obersten (Ministerien), mittleren und unteren Verwaltungsbehörden;[97] in Frankreich gliedert sich die Verwaltung heute in Ministerien und Präfekten (préfets), die auf der Ebene der 101 Departements eingesetzt sind, sowie in Arondissements. Auch wenn sich seine Aufgaben und Funktionen im Zuge der Dezentralisierung seit Anfang der 1980er-Jahre geändert haben, bildet der préfet seit napoleonischer Zeit (1800) das Rückgrat der französischen Verwaltung in der Fläche[98] und war Vorbild für viele andere Verwaltungsrechtsordnungen.[99] Kleinere Staaten wie Griechenland verfügen im Kern über eine zweistufige staatliche Verwaltung.[100] Alle Verwaltungsrechtsordnungen kennen darüber hinaus eine Fülle von der Regierung oder einzelnen Ministerien nachgeordneten Sonderbehörden.
62
Einen Sonderfall stellt auch insoweit Großbritannien bzw. England dar, dessen Verwaltungsorganisation durch ein hohes Maß an Flexibilität und Experimentierfreude sowie eine „verwirrende Vielfalt“ von Behörden gekennzeichnet ist, deren Bestand und Zuschnitt kontinuierlich verändert wird. Neben den Ministerien und den Agenturen (dazu unter bb) gibt es derzeit 199 executive non-departmental public bodies, 448 advisory non-departmental public bodies und 40 tribunal non-departmental public bodies.[101]
63
Das Modell der hierarchisch gegliederten Staatsverwaltung ist nach dem Zweiten Weltkrieg unter Druck geraten. Während es in den Bundesstaaten schon immer ein Nebeneinander zentral- und gliedstaatlicher Verwaltungsorganisation gegeben hat,[102] sehen die Verfassungen heute auch in Einheitsstaaten wie Frankreich, Italien oder Spanien Untergliederungen des Staates mit eigener Rechtspersönlichkeit vor.[103] Sie statuieren Organisationsprinzipien wie Autonomie, Dezentralisierung[104] oder ein Subsidiaritätsprinzip,[105] die die Zuständigkeitsverteilung zwischen den Verwaltungsebenen steuern.
bb) Agenturen und andere unabhängige Behörden
64
In gewisser Weise einen Fremdkörper in der staatlichen Verwaltung bilden die an amerikanische oder skandinavische Vorbilder angelehnten Agenturen und andere unabhängige Behörden.[106] Vorläufer unabhängiger Agenturen gab es in Großbritannien mit den sogenannten boards bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts; sie mussten später allerdings der hierarchisch gegliederten Ministerialverwaltung weichen. In Deutschland spielten unabhängige Behörden früher nur eine randständige Rolle; ob die Bundesbank vor ihrer Eingliederung in das Europäische System der Zentralbanken wirklich unabhängig war, blieb bis zum Schluss umstritten.[107] In Frankreich haben die autorités administratives indépendantes seit den späten 1970er-Jahren größere Verbreitung gefunden,[108] in anderen Verwaltungsrechtsordnungen sind sie nach und nach ebenfalls anerkannt, mitunter sogar in der Verfassung verankert worden.[109]
65
Die größte Bedeutung haben Agenturen und unabhängige Behörden heute aufgrund unionsrechtlicher Vorgaben im Bereich der Regulierungsverwaltung[110] und des Datenschutzes.[111] Sie unterliegen grundsätzlich keinen Weisungen der Regierung und folgen auch bei der Rekrutierung ihres Personals besonderen Regelungen. Ihre Eigenarten – weitgehende Unabhängigkeit gegenüber der politischen Führung, gerichtlich nur beschränkt überprüfbare Beurteilungsspielräume – haben etwa in Italien dazu geführt, dass sie keiner der traditionellen Staatsgewalten zugeordnet werden.[112]
c) Verwaltungsträger mit Autonomie
66
Verwaltungsaufgaben werden ferner von dem Staat nachgeordneten Gebietskörperschaften (dazu unter aa) und sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts (dazu unter bb) erledigt. Gemeinsam ist ihnen, dass sie über eine Repräsentativkörperschaft verfügen, die in der Regel mit Rechtsetzungsbefugnissen ausgestattet und für die wesentlichen Entscheidungen zuständig ist. Aus Gründen des demokratischen Prinzips oder funktional äquivalenter Grundsätze unterliegen sie dabei der Aufsicht der Regierung,[113] die meist eine Rechtsaufsicht ist,[114] unter besonderen Umständen aber auch als Fachaufsicht ausgestaltet sein kann.
aa)