Ius Publicum Europaeum. Paul Craig
besondere Nähe zur staatlichen Verwaltung weisen die vom Staat zu unterscheidenden Gebietskörperschaften auf, d.h. Regionen, Wojewodschaften, Departements, Provinzen, Kreise, Städte und Kommunen.[115] Obwohl es namentlich in den Einheitsstaaten schon unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg vielfach den Wunsch nach Dezentralisierung gab und in den nationalen Verfassungen teilweise sogar ein Dezentralisierungsprinzip niedergelegt ist, sollte seine Verwirklichung noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts dauern.[116] Seit den 1970er-Jahren ist die Bedeutung der nachgeordneten, mit Autonomie ausgestatten Gebietskörperschaften in den meisten Verwaltungsrechtsordnungen freilich stark gestiegen. Darauf deutet nicht zuletzt auch die Anerkennung der regionalen und lokalen Selbstverwaltung in Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV hin.
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Die kommunale Selbstverwaltung kann auf unterschiedliche Traditionslinien zurückgreifen. Sie besitzt Vorläufer in den Hansestädten und freien Reichsstädten des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, lässt sich aber auch für das byzantinische Kaiserreich nachweisen.[117] Während der Herausbildung des modernen Verfassungsstaates in Deutschland wurde die kommunale Selbstverwaltung ursprünglich als eine den Grundrechten vergleichbare „natürliche“ Freiheit begriffen;[118] diese Sicht wurde nach 1949 jedoch von einem „etatistischen“ Verständnis der Selbstverwaltung verdrängt, das in den Kommunen heute primär Träger mittelbarer, d.h. dezentralisierter Staatsverwaltung sieht (Art. 28 Abs. 1 und 2 GG).[119] Das trifft sich mit der Sicht einheitsstaatlicher, mittlerweile aber dezentralisierter Verwaltungsrechtsordnungen, wie sie sich in Frankreich, Griechenland (Art. 102 Abs. 1 Verf.) oder Polen finden. In Italien werden die Kommunen sogar zur Staatsverwaltung gezählt,[120] in Großbritannien ist ihre Stellung nach dem Zerfall entsprechender Constitutional Conventions Ende des 20. Jahrhunderts prekär.[121]
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Aufgabe der kommunalen Gebietskörperschaften ist es, die ihnen durch Verfassung und/oder Gesetz zugewiesenen Aufgaben zu erledigen. Das sind bei Städten und Gemeinden in erster Linie eigene Angelegenheiten bzw. Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft (Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG; Art. 102 Abs. 1 Verf. Griechenland, Art. 116 Abs. 1 B-VG) sowie gesetzlich zugewiesene – sogenannte übertragene – Angelegenheiten. Kommunalen Gebietskörperschaften höherer Ebene (Landkreise, Regionen) verfügen meist nur über einen gesetzlich zugewiesenen Aufgabenbestand.
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Die Gebietskörperschaften verfügen auch über die Befugnis zur Rechtsetzung durch Satzungen und Rechtsverordnungen. Diese wird ihnen teils unmittelbar durch die Verfassung, teils durch Gesetz verliehen.[122] Der Vollzug dieses selbst gesetzten Rechts ist ebenso Aufgabe der Gebietskörperschaften wie die Erledigung staatlich zugewiesener Vollzugsaufgaben.
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Kommunale Gebietskörperschaften verfügen typischerweise über Vertretungsorgane, die aus periodisch durchzuführenden allgemeinen Wahlen hervorgehen und ähnlich wie Parlamente die grundlegenden Entscheidungen im Rahmen des jeweiligen Aufgabenspektrums treffen.[123] Daneben besitzen sie eine – teilweise direkt gewählte[124] – Verwaltungsspitze.[125]
bb) Funktionale Selbstverwaltung
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Neben den Gebietskörperschaften kennen die Verwaltungsrechtsordnungen Europas auch Personengruppen, denen durch Gesetz oder staatliche Privilegierung das Recht zur hoheitlichen Erledigung sie betreffender Verwaltungsaufgaben übertragen ist. Diese „Betroffenenverwaltung“ – mit Blick auf die mit dieser Konstruktion verbundene Autonomie auch funktionale Selbstverwaltung genannt[126] – erfolgt in erster Linie durch öffentlich-rechtliche (Personal-)Körperschaften wie Kammern, Universitäten oder Sozialversicherungsanstalten.[127]
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Daneben werden als Träger mittelbarer Staatsverwaltung auch rechtsfähige Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts mit Autonomie ausgestattet.[128]
d) Öffentliche Unternehmen
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Öffentliche Aufgaben werden in vielen Verwaltungsrechtsordnungen auch in den Formen des Privatrechts erledigt. Das geschieht meist mit Hilfe privatrechtlich organisierter Unternehmen, deren Anteile ganz dem Staat oder einem anderen Verwaltungsträger gehören (Eigengesellschaften) oder von diesen zumindest beherrscht werden (gemischt-wirtschaftliche Unternehmen).[129] Mitunter genießen die öffentlichen Unternehmen Sonderrechte und üben hoheitliche Gewalt aus. Verwaltungsrechtliche Probleme bereitet ihr Einsatz dann, wenn sich mit dem Wechsel der Organisationsform – wie in Griechenland[130] – auch die Rechte und Pflichten zwischen Verwaltung und Bürger ändern. In Deutschland wird dagegen schon seit den 1920er-Jahren vor einer „Flucht ins Privatrecht“[131] gewarnt. Hier dürfte die herrschende Meinung heute davon ausgehen, dass die Verwaltung mit der Wahl einer privatrechtlichen Organisationsform nicht auch ihre öffentlich-rechtlichen Bindungen abstreifen kann. Das gilt namentlich für ihre Bindung an die Grundrechte.[132]
e) Einbeziehung Privater
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Schon immer hat sich die öffentliche Verwaltung zur Erledigung ihrer Aufgaben auch Privater bedient.[133] Waren Phänomene wie die Beleihung oder der Verwaltungshelfer früher jedoch eher Randerscheinungen des Verwaltungsrechts, so sind sie mit der Privatisierungswelle nach 1990 geradezu ins Zentrum des Verwaltungsorganisationsrechts gerückt. Auch die Öffentlich Private Partnerschaft (Public Private Partnership) wurde eine Zeit lang geradezu als Ideal einer modernen, private Ressourcen mobilisierenden Erledigung von Verwaltungsaufgaben betrachtet.[134] Mittlerweile scheint insoweit jedoch die Einsicht gewachsen, dass die Einbeziehung Privater auch ihren Preis hat. Dazu gehören neben höheren Kosten – privates Kapital muss sich amortisieren, Unternehmer müssen Gewinn machen – auch nicht gering zu achtende Steuerungsverluste der Verwaltung durch die Verantwortungsdiversifizierung.
f) Europäisierung der Verwaltungsorganisation und Europäischer Verwaltungsverbund
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Die Europäisierung wirkt bislang vor allem unter drei Gesichtspunkten auf die Verwaltungsorganisation der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein: durch punktuelle Privatisierungsimpulse, die Verpflichtung zur Bildung unabhängiger Behörden und die Einbindung der nationalen Verwaltung in einen Europäischen Verwaltungsverbund.
aa) Europäisierung der Verwaltungsorganisation
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Obwohl die Europäische Union keine Kompetenz zur Regelung des nationalen Verwaltungsorganisationsrechts besitzt, hat insbesondere die Anwendung des unionalen Wettbewerbsrechts auf öffentliche Unternehmen der Daseinsvorsorge (Art. 106 Abs. 1 AEUV) einen faktischen Privatisierungsdruck entfaltet. Das gilt namentlich in den Fällen, in denen die nationale Verwaltung ein ihr zugewiesenes (Dienstleistungs-)Monopol nicht wirksam ausfüllen kann. In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes wurde dies etwa für Teile der deutschen und italienischen Arbeitsverwaltung festgestellt.[135] Eine erheblich weiter reichende Überformung des nationalen Verwaltungsorganisationsrechts bedeutet hingegen die Schaffung des Einheitlichen Ansprechpartners auf der Grundlage von Art. 6 Richtlinie 2006/123/EG.[136]
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Noch gravierender ist, dass das Unionsrecht in einer Fülle von Bereichen – von den nationalen Zentralbanken über die Datenschutzbeauftragten bis zu den Regulierungsbehörden – die Unabhängigkeit der Behörden von den nationalen Regierungen vorschreibt. Weil deren Tätigkeit damit von Regierung und Parlament abgekoppelt wird, stellt dies einen problematischen Eingriff