Ius Publicum Europaeum. Paul Craig
und die Verwaltungsverfahren der Kommunen, die ihrem Verfassungsraum zugeordnet sind,[12] nahezu gleichlautende Verwaltungsverfahrensgesetze erlassen oder sie verweisen auf das Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes. Den Landesverwaltungsverfahrensgesetzen kommt wegen des Grundsatzes der Ausführung (auch) der Bundesgesetze durch die Länder (Art. 30, 83 GG) praktisch sogar die größere Bedeutung zu. Für die Qualität der Rechtsdogmatik in Deutschland war und ist es deshalb von Bedeutung, dass die Verwaltungsverfahrensgesetze in Bund und Ländern in nahezu allen Punkten übereinstimmen und – mit der Ausnahme Schleswig-Holsteins – auch die Nummerierung der Paragraphen einheitlich geblieben ist.
2. Konstitutionalisierung
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Von den vielen Beobachtungen, die sich zur Entwicklungsgeschichte des deutschen Verwaltungsrechts nach 1945[13] machen lassen, ist der „Konstitutionalisierung“ genannte Vorgang von besonderer Bedeutung.[14] Der berühmte Satz Otto Mayers „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht“[15], der schon im Zeitpunkt seiner Prägung stark relativierungsbedürftig war,[16] kann heute durch die Neubegründung des deutschen öffentlichen Rechts nach dem Zweiten Weltkrieg als widerlegt gelten. Fritz Werner hielt dem Diktum Mayers daher im Jahr 1959 die treffendere, wenngleich ihrerseits einschränkungsbedürftige[17] Formel „Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht“ entgegen.[18]
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Der Vorgang der Konstitutionalisierung speist sich dabei aus mehreren Quellen: Zu der umfassenden Bindung aller staatlichen Gewalt an die mit Geltungsvorrang ausgestattete Verfassung (Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG)[19] kommen das Instrument der verfassungskonformen Auslegung[20] sowie vor allem die schrittweise Anreicherung der materiell-rechtlichen Gehalte der Grundrechte auf der Basis von und in Folge der Lüth-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) aus dem Jahr 1958 („Wertordnung“-Judikatur).[21] Bereits im Jahr 1957 hatte sich das BVerfG mit dem Elfes-Urteil[22] durch die weite Auslegung des Art. 2 Abs. 1 GG im Sinne einer allgemeinen Handlungsfreiheit den eigenen Zugriff auf eine grundsätzlich flächendeckende Kontrolle des Staatshandelns, zumal des einfachen Gesetzgebers, „gesichert“ und damit der Konstitutionalisierung zusätzlich den Weg geebnet.
3. Europäisierung und Internationalisierung
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Die wichtigste Herausforderung für das „gewachsene“ System des deutschen Verwaltungsrechts geht heute von der Europäisierung[23] und Internationalisierung[24] des Rechts aus. Speziell die Europäisierungsprozesse signalisieren in Anbetracht ihrer strukturellen Tiefenwirkung[25] eine „zweite Phase des Öffentlichen Rechts unter dem Grundgesetz“[26]. Der Einfluss fremder Rechtsordnungen auf das deutsche verwaltungsrechtliche System stellt dabei keinen Grund dar für Überfremdungssorgen oder Verfallsszenarien.[27] Er bietet – im Gegenteil – die Chance für eine produktive Weiterentwicklung des nationalen Rechts im Lichte der Innovations- und Rechtsbereinigungsimpulse des Unionsrechts[28] und im Dienste des europäischen Einigungsprozesses.[29] Die Europäisierung verlangt auch keinen Abschied vom Systemdenken. [30] Gerade dann, wenn die alten Systemelemente und Wertungen des nationalen Rechts mit der Bewältigung der Herausforderung der Europäisierung überfordert sind oder – klarer ausgedrückt – wenn sie nicht oder nicht vollständig zu der Unionsrechtsordnung passen,[31] bedarf es der schöpferischen Kraft der Rechtsdogmatik, ihre eigenen Lehrsätze anzupassen oder zu „überwinden“ und Neues zu schaffen.
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Die Europäisierung des deutschen Verwaltungsrechts darf nicht so verstanden werden, als sei die deutsche Rechtsordnung durch sie gleichsam von den Füßen auf den Kopf gestellt worden. Neben den Veränderungen, welche das nationale Recht erfahren hat, ist auch seine eindrucksvolle Anpassungsfähigkeit und Rezeptionsleistung hervorzuheben: Im Kern hat sich das deutsche Recht als flexibel, innovationsoffen und unionsrechtstauglich erwiesen.[32] Die Europäisierung des deutschen Verwaltungsrechts hat zum einen zwar verschiedene, zum Teil auch strukturelle, Divergenzen verursacht, zum anderen zeigt sich aber auf breiter Front auch ein Bild der Konvergenz. Dies gilt nicht zuletzt auch deshalb, weil die Verpflichtung der Union auf Rechtsstaatlichkeit (Art. 2 EUV) zunehmend mit Leben gefüllt und anhand sehr ähnlicher Prinzipien wie auf nationaler Ebene konkretisiert wird.[33]
Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 74 Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Deutschland › II. Prinzipien
1. Würde und Freiheit des Einzelnen
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Das Grundgesetz geht von der Würde und der Freiheit des zwar gemeinschaftsgebundenen und -bezogenen, aber zunächst einmal autonomen Menschen aus (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG).[34] Im Zentrum der Verfassung stehen nicht Institutionen oder Gemeinschaften, aber auch nicht „Netzwerke“ oder „Governance Strukturen“, im Zentrum steht der Einzelne[35] mit seiner Würde und seinem Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“, so der Entwurf des Verfassungskonvents Herrenchiemsee (Art. 1 Abs. 1). Die Rückbesinnung auf die christlichen Wurzeln des Abendlandes, eine an die europäisch-nordamerikanische Tradition der Aufklärung anknüpfende Liberalität und eine antitotalitäre Stoßrichtung sind die (Wieder-)Geburtsprinzipien einer als Gegenbild zur menschenverachtenden nationalsozialistischen Tyrannis konzipierten rechtsstaatlichen Verwaltung in Deutschland nach 1945.[36] Das hierin zum Ausdruck kommende Menschenbild[37] hat konkrete Folgen für das Verwaltungsrecht, etwa für die Anerkennung subjektiver Rechte, die Stellung des Einzelnen im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren (Rechte auf Anhörung, Akteneinsicht, Begründung etc.), die Zulässigkeit von (auch subordinationsrechtlichen) Verwaltungsverträgen oder die – grundrechtsgebundene – administrative Ermessensausübung.[38]
2. Eigenständigkeit der Verwaltung
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Innerhalb der gewaltenteilenden Funktionenordnung des Grundgesetzes ist neben der Legislative und der Justiz auch die Verwaltung eine eigenständige, bereits institutionell und funktionell demokratisch legitimierte[39] Staatsgewalt (vgl. Art. 20 Abs. 2 GG).[40] Verwaltung ist zwar gesetzesdirigiert, aber niemals in dem Sinne einer Beschränkung auf bloßen Normvollzug. Die Legitimation der Verwaltung bezieht sich vielmehr auf die Vermittlung demokratisch gesetzten Rechts durch stufenweise Konkretisierung in einem vielschichtigen, auch rechtsschöpferischen Rechtsanwendungsprozess.[41] Die Erscheinungsformen administrativer Eigenständigkeit sind dabei unterschiedlich, je nach Aufgabenstruktur und aufgabenspezifischen Erfüllungsmodalitäten.[42] Spezialausprägungen der Eigenständigkeit der Verwaltung sind die Annahme eines unentziehbaren Kerns exekutivischer Eigenverantwortung (Verwaltungsvorbehalt)[43] sowie die Anerkennung von Einschätzungsspielräumen der Gubernative,[44] in bestimmten Fällen auch der Administrative (Verwaltungsermessen). Der Fokus der Beschäftigung mit der Verwaltung sub specie der Gewaltenteilung liegt damit in Deutschland traditionell vor allem auf dem Verhältnis der Verwaltung zur Gesetzgebung, während etwa in Frankreich die aus der Exekutive hervorgegangene Verwaltungsgerichtsbarkeit im Zentrum des Interesses steht.[45]
3. Gesetzmäßigkeit der Verwaltung
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Im liberalen Rechtsstaat des Grundgesetzes (formeller Rechtsstaat) gilt der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG).[46] Dieser Grundsatz bringt zum einen die Bindung der Verwaltung an die bestehenden Gesetze zum Ausdruck (Vorrang des Gesetzes).[47] Daneben wird verschiedentlich aus Art. 20 Abs. 3 GG auch der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes abgeleitet,[48]