Ius Publicum Europaeum. Paul Craig
20 Abs. 3 GG, der nur auf das Vorrangprinzip ausgerichtet ist. Richtigerweise ist daher zwischen dem grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt und dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt zu unterscheiden und Letzterer im Demokratie- sowie Rechtsstaatsprinzip zu verankern.[49]
12
Demokratischer und parlamentarischer Gesetzesvorbehalt konvergieren zwar in ihrer Wirkung, beruhen jedoch auf unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Grundlagen.[50] Der aus Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitete rechtsstaatliche Gesetzesvorbehalt (Rechtssatzvorbehalt) verlangt, dass das Verwaltungshandeln überhaupt durch hinreichend bestimmte Normen angeleitet wird, also nicht der Beliebigkeit administrativen Gestaltungswillens überlassen wird. Dem kann auch durch untergesetzliche Regelungen (Verordnungen, Satzungen) entsprochen werden.[51] Der demokratische Gesetzesvorbehalt (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG) verlangt, dass wesentliche Entscheidungen über Inhalt und Maßstab exekutivischen Handelns auf einen hinreichend bestimmbaren Parlamentswillen rückführbar sind. Der Gesetzgeber hat hierbei den Grad inhaltlicher Bestimmtheit an dem notwendigen Maß der Determination des Verwaltungshandelns auszurichten und die Grundsätze der Normenklarheit und Justitiabilität zu beachten.[52]
13
Auch der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung verlangt indes keinen parlamentarischen Totalvorbehalt.[53] Vielmehr ist zu differenzieren: Im Bereich der Eingriffsverwaltung muss jede belastende staatliche Maßnahme auf einer hinreichenden parlamentsgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage beruhen. Entscheidungen über die Grenzen der Freiheit des Bürgers dürfen nicht einseitig dem Ermessen der Verwaltung überantwortet werden.[54] Im Bereich der Leistungsverwaltung ist einerseits der Grad der Freiheitsbeeinträchtigung geringer. Andererseits sind staatliche Leistungen in vielen Bereichen von elementarer Bedeutung für den Einzelnen und belasten zudem den – parlamentarisch zu verantwortenden (vgl. Art. 110 GG) – Haushalt. Daher wird allgemein eine Ausgabenermächtigung im Haushaltsplan sowie eine die Leistungen strukturierende und damit Gleichmäßigkeit gewährleistende Binnensteuerung durch Verwaltungsvorschriften für erforderlich, aber auch für ausreichend erachtet. Soweit Leistungen indes durch die Förderung einzelner Adressaten andere wettbewerblich benachteiligen und hierdurch qualifizierte Grundrechte betroffen sind, ist ebenfalls eine hinreichende gesetzliche Grundlage vonnöten.[55] Daneben ist ein institutioneller Gesetzesvorbehalt für wesentliche Organisationsentscheidungen anerkannt,[56] namentlich für die Gründung selbständiger juristischer Personen des öffentlichen Rechts[57] sowie für die Beleihung Privater[58].
4. Kontrollprinzip, insbesondere effektiver Rechtsschutz
14
Zum Kernbestand rechtsstaatlicher Verwaltung gehört die Pflicht des Staates zur Justizgewährung.[59] Die Rechte des Einzelnen sind daher durch das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) prozessual bewehrt. Art. 19 Abs. 4 GG bildet als prozessuales Hauptgrundrecht die tragende Säule des deutschen Kontrollprinzips, dessen Hauptakteure die unabhängigen Gerichte (Art. 92ff. GG) sind. Hinzu kommen andere Kontrollinstrumente, so dass die Verwaltung insgesamt einem dichten Geflecht von internen und externen Kontrollen unterliegt. Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang auch der Organisation[60] und dem Verwaltungsverfahren in ihrer (Grund-) Rechtsschutz antizipativ sichernden Funktion zu.[61] Das Verwaltungsverfahren sichert dem Einzelnen insoweit einen „status activus processualis“ (Peter Häberle)[62]. Hierfür spielen vor allem spezifische Verfahrensrechte des Einzelnen,[63] etwa das Recht auf Anhörung (§ 28 VwVfG), das Recht auf Akteneinsicht (§ 29 VwVfG) und das Recht auf Informationszugang, eine erhebliche Rolle.
5. Rechtssicherheit, insbesondere Vertrauensschutz
15
Aus einzelnen Verfassungsvorschriften und Verfassungsprinzipien, insbesondere dem Rechtsstaatsprinzip, lassen sich überdies allgemeine Grundsätze des Verwaltungsrechts ableiten.[64] Hierzu zählt vor allem der Grundsatz der Rechtssicherheit.[65] „Die Verlässlichkeit der Rechtsordnung ist eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen“[66], die freilich nicht selten in Kollision gerät mit gegenläufigen Prinzipien (z.B. Einzelfallgerechtigkeit, Vorrang des Gesetzes). In der Rechtssicherheit wurzeln wiederum verschiedene Subprinzipien. Für die hier interessierende Exekutive ist vor allem der Grundsatz des Vertrauensschutzes hervorzuheben, bei dem sich aber spezielle Bestimmungsfaktoren aus den Grundrechten (vor allem Art. 14 GG) ergeben.[67] Wegbereitend für die Entfaltung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes wirkte die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zur Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte, die später im Wesentlichen durch § 48 VwVfG rezipiert wurde.[68] Im exekutiven Bereich manifestiert sich die Rechtssicherheit darüber hinaus in der Bestandskraft von Verwaltungsakten und der Selbstbindung der Verwaltung (Art. 3 Abs. 1 GG).[69]
6. Verhältnismäßigkeit
16
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergibt sich nach der Rechtsprechung des BVerfG als übergreifende Leitregel „allen staatlichen Handelns zwingend aus dem Rechtsstaatsprinzip“ und besitzt damit seinerseits „Verfassungsrang“[70]; teilweise wird er auch – eher unklar – „aus dem Rechtsstaatsprinzip, im Grunde bereits aus dem Wesen der Grundrechte selbst“[71] hergeleitet.[72] Das Übermaßverbot[73], das auf Einzelfallgerechtigkeit zielt, ist für alle Staatsorgane verbindlich und erfasst über seine ursprünglich beschränkte Rolle als Eingriffsmaßstab (sogenannte Schranken-Schranke) hinaus auch Vorgänge der gestaltenden, leistenden und planenden Staatstätigkeit.[74] Es gliedert sich in die Teilprinzipien der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, Zumutbarkeit).
17
Im Schrifttum wird zum Teil eine Hypertrophie der Verhältnismäßigkeit („Abwägungsstaat“[75]) beklagt, welche „harte“ Direktiven, Maßstäbe und Strukturen des Rechts aufweiche.[76] Die Rechtspraxis, zumal die Rechtsprechung, hat diese Kritik völlig unbeeindruckt gelassen. Für sie bildet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unvermindert und mit eher noch steigender Tendenz den zentralen, nicht selten für die Entscheidung über Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit einer Maßnahme letztlich ausschlaggebenden Kontrollmaßstab. Im Europäisierungsprozess steht der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sogar für einen der erfolgreichsten „deutschen Exportschlager“ erster Güte, der vom deutschen Recht ausgehend – wenn auch zumeist in weniger fein ziselierter Form – Eingang in die Rechtsdogmatik verschiedener anderer Mitgliedstaaten und vor allem des EuGH/EuG gefunden hat.[77]
7. Gerechtigkeit und Gleichheit
18
Der liberale Rechtsstaat des Grundgesetzes wurde von Anfang an durch den sozialen (materiellen) Rechtsstaat ergänzt (vgl. Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 Satz 1 GG).[78] „Sozial“ ist der Rechtsstaat, der auf (umverteilende) Gerechtigkeit und Gleichheit zielt. Neben den der Gefahrenabwehr dienenden, unverändert wichtigen Aufgaben der Eingriffsverwaltung sind damit auch Aufgaben der Leistungs- und Lenkungsverwaltung im sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Bereich verfassungsrechtlich anerkannt. Dies gilt erst recht mit Blick auf die EU, die seit einiger Zeit verstärkt gerade im Sozialen (z.B. Dienste von allgemeinem Interesse,[79] soziale Grundrechte)[80] ein identitätsstiftendes Integrationsmerkmal sucht.[81]
8. Vorsorge
19
Spätestens seit der Verankerung des Umweltschutzes im Grundgesetz (Art. 20a GG) im Jahr 1994 ist die Bundesrepublik Deutschland auch „Umweltstaat“.[82] Das Prinzip des ökologischen Verfassungsstaates drängt auf einen Umbau der sozialen Marktwirtschaft zur ökologisch-sozialen Marktwirtschaft.[83] Unter den im Zeitalter hochkomplexer Techniken (z.B. Atomtechnik, Gentechnik) wachsenden Gewissheitsverlusten[84]