Ius Publicum Europaeum. Paul Craig
Auch der Vorsorgegrundsatz[88] ist vom deutschen Verwaltungsrecht ausgehend schrittweise in das Recht anderer Mitgliedstaaten sowie das Unionsrecht vorgedrungen und hat sich dort mittlerweile auf breiter Front behauptet.[89]
9. Nachhaltigkeit
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Das völker- und europarechtlich (Art. 11 AEUV, Art. 37 GRCh) vorgegebene Nachhaltigkeitskonzept weist über das traditionsreiche, bis auf die deutsche Forstwirtschaft des 18. Jahrhunderts zurückgehende Kernanliegen der langfristigen Ressourcenschonung hinaus und zielt auf einen Ausgleich ökologischer mit kollidierenden ökonomischen und sozialen Belangen (Drei-Säulen-Modell).[90] Das deutsche Verfassungsrecht hat dieses Nachhaltigkeitskonzept im Unterscheid etwa zur Schweiz[91] zwar bislang nicht rezipiert (es regelt in Art. 20a GG nur die Nachhaltigkeit im ökologischen Sinne[92]), auf einfach-gesetzlicher Ebene finden sich aber vielfältige Ausprägungen.[93] Der anzustrebende Ausgleich hat sich auch an den Interessen der nachrückenden und künftigen Generationen zu orientieren. Hierdurch soll auf Generationengerechtigkeit[94] hingewirkt werden. Die Implementation des Nachhaltigkeitsprinzips hat weit reichende Folgen für das tradierte verwaltungsrechtliche System und seine Dogmatik. Sie führt zu einer Intensivierung integrativer, finaler und prozeduraler Ansätze, zu einem Bedeutungszuwachs für planerische Instrumente[95] sowie, allgemein gesprochen, zu einem „gesteigerten Ausgriff des Verwaltungsrechts auf Zukunft und Entwicklung“[96] (Prospektivität von Recht).[97]
10. „Prinzip“ der Expansion der Verwaltungsaufgaben
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Der ökologisch-soziale Interventions-, Präventions- und Rechtsstaat hat maßgeblich dazu beigetragen, dass Deutschland als „Verwaltungsstaat“[98] mit „entfesselter Verwaltung“[99] gilt. Umschrieben wird damit die stetige Expansion der Verwaltungstätigkeit und des Verwaltungsapparats gleichsam im Sinne eines „Lebensprinzips“ der deutschen Verwaltung.[100] Auf Privatisierung, Deregulierung und Entbürokratisierung gerichtete Gegenbewegungen[101] führten insoweit nur zu geringfügigen Korrekturen. Unter den neuen Schlagworten des Gewährleistungsstaates und der Regulierung wachsen dem sich seiner Erfüllungsverantwortung entledigenden Staat zugleich wieder zahlreiche neue, anspruchsvolle Aufgaben zu.[102] In Reaktion auf die Finanzmarktkrise der Jahre 2008/09[103] schwingt das Pendel noch weiter aus in Richtung eines Neoetatismus[104], der durch Ausbau staatlicher Ingerenz (insbesondere Überwachung), durch Wirtschaftslenkung[105] und durch verstärkte eigenwirtschaftliche Betätigung (Stichwort: Rekommunalisierung von Aufgaben der Daseinsvorsorge, etwa auf den Gebieten Energie, Wasser und Abfall[106]) gekennzeichnet ist.
Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 74 Grundzüge des Verwaltungsrechts in gemeineuropäischer Perspektive: Deutschland › III. Verwaltungsrechtliche Institute in der Steuerungsperspektive
aa) Einheit und Pluralität der Verwaltung
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Die „Einheit der Verwaltung“ lässt sich zwar – entgegen anders lautender Stimmen im Schrifttum[107] – nicht als Teilgrundsatz aus dem Rechtsstaatsprinzip oder dem Demokratieprinzip deduzieren,[108] sie steht aber für eine regulative Idee, deren Bedeutung in erster Linie darin liegt, den Zurechnungs- und Verantwortungszusammenhang allen Verwaltungshandelns zum Staat als im Kern unaufgebbares Postulat des parlamentarischen Regierungssystems (vgl. Art. 20 Abs. 2, Art. 65 Satz 2 GG[109]) zu kennzeichnen. Soweit sich freilich der grundsätzlich nur verwaltungstheoretische Topos der Einheit der Verwaltung in seinem Sinngehalt mit dem normativen Gehalt bestimmter Verfassungsprinzipien und -bestimmungen trifft, hat er Anteil an deren normativer Funktion.[110]
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Die Leitidee der Einheit der Verwaltung gilt dabei nicht absolut oder als Selbstzweck.[111] Im Gegenteil: Sowohl rechtlich als auch empirisch ist die Organisation der deutschen Verwaltung seit langem[112] horizontal und vertikal stark ausdifferenziert (Pluralität der Verwaltung).[113] Dem Betrachter bietet sich ein gleichsam „naturwüchsiges“[114] Bild der Fragmentierung, Spezialisierung und Polyzentralität.[115] Bund und Länder verfügen jeweils über eigene Verwaltungsstrukturen ohne eine gemeinsame Spitze. Wegen des Grundsatzes des Vollzugs auch der Bundesgesetze durch die Länder (Art. 83 GG)[116] liegt praktisch der Schwerpunkt der Verwaltungstätigkeit auf der Länderebene. Die Fragmentierung und Binnendifferenzierung ergibt sich daneben auch aus der hohen Zahl verselbständigter Verwaltungseinheiten.[117] Aus unterschiedlichen, mit den Spezifika der jeweiligen Sachmaterie verbundenen Motiven[118] wurden zahlreiche öffentliche Aufgaben aus dem Bereich der unmittelbaren Staatsverwaltung entlassen und organisatorisch ausgegliederten Trägern („Trabanten“) zugewiesen. Durch die Privatisierung von Staatsaufgaben und die Eingehung von Kooperationsverhältnissen zwischen dem Staat und Privaten („kooperatives Recht“[119]; Public-Private-Partnership – PPP[120]) kommt es noch zu einer weiteren Pluralisierung der Verwaltung.[121]
bb) Unmittelbare und mittelbare Staatsverwaltung
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Das deutsche Verwaltungsrecht unterscheidet herkömmlich[122] zwischen unmittelbarer Staatsverwaltung und mittelbarer Staatsverwaltung.[123] Unmittelbare Staatsverwaltung betrifft Behörden als Organe von Bund und Ländern,[124] und zwar im Regelfall innerhalb weisungsgebundener Hierarchie. Von mittelbarer Staatsverwaltung spricht man, wenn der Staat öffentliche Aufgaben[125] nicht durch eigene Behörden erfüllt, sondern rechtlich verselbständigten Trägern öffentlicher Gewalt überträgt,[126] die dem Staat „mittelbar zuzurechnen“[127] sind. In Betracht kommen hierbei zum einen öffentlich-rechtliche Verbände (Körperschaften, Anstalten, Stiftungen),[128] zum anderen beliehene Private. Auch die Verfassung enthält vereinzelt Entscheidungen für Formen der mittelbaren Staatsverwaltung (Art. 86, Art. 87 Abs. 2 und 3 GG).
cc) Selbstverwaltung
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Das Prinzip der Selbstverwaltung bildet ein zentrales und traditionsreiches Element der deutschen Verwaltungsorganisation.[129] Seine wichtigste Ausprägung ist die kommunale Selbstverwaltung. Bereits im aufgeklärten Absolutismus gab es Formen der kommunalen Selbstverwaltung. Damals wurde „Selbstverwaltung“ jedoch noch als eine besondere Form der Staatsverwaltung konstruiert, diente allein der Verwaltungseffizienz und unterlag daher uneingeschränkter Aufsicht des Staates.[130] Deutungsversuche der Selbstverwaltung als autonomes, vom Staat verselbständigtes Recht traten im 19. Jahrhundert hinzu. Wirkmächtig waren hier genossenschaftliche (Karl Freiherr vom und zum Stein, Otto von Gierke, Hugo Preuß)[131] und freiheitlich-grundrechtsanaloge[132] Konstruktionen, die aber letztlich unter dem Einfluss von anders akzentuierten Selbstverwaltungskonzepten wie dem „selfgovernment“ (Rudolf von Gneist) und vor allem des staatsrechtlichen Positivismus (Carl Friedrich von Gerber, Paul Laband, Georg Jellinek, Hermann Schulze) von den bis heute erhalten gebliebenen, formal-etatistisch ausgerichteten körperschaftlichen Selbstverwaltungsmodellen abgelöst wurden.[133] Eine institutionelle Gewährleistung auf Verfassungsebene, die von der zeitgenössischen Lehre ganz überwiegend weiter formal-etatistisch verstanden und an die später auch bei den Beratungen des Bonner Grundgesetzes (unter anderem) angeknüpft wurde,[134] erlangte die Selbstverwaltungsgarantie erstmals im Rahmen des Art. 127 WRV.[135]
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Heute bilden die Gemeinden und Kreise selbständige Rechts- und Hoheitsträger, die einerseits im Wege der Dezentralisierung aus der allgemeinen Staatsverwaltung ausgegliedert und mit Selbstverwaltungsrecht in eigenen