Ius Publicum Europaeum. Paul Craig
harmonisch verlaufen kann, belegt etwa die Rechtsprechung zur Rücknahme unionsrechtswidriger belastender Verwaltungsakte.[323] Der EuGH hat hier frühzeitig anerkannt, dass eine fristgebundene Bestandskraft, die zur Unaufhebbarkeit eines Verwaltungsakts führt, grundsätzlich uni- onsrechtskonform ist, dass die Prinzipien der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes und der Rechts- bzw. Bestandskraft auch wichtige allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts[324] bilden,[325] und folglich grundsätzlich keine Verpflichtung besteht, eine gegen das Unionsrecht verstoßende rechts- bzw. bestandskräftige gerichtliche bzw. behördliche Entscheidung nachträglich zu überprüfen und aufzuheben.[326] Etwas anderes gilt nur dann, wenn entweder eine unionsrechtswidrige Entscheidung in Folge einer verfehlten Nichtvorlage nach Art. 267 AEUV bestandskräftig wurde[327] oder eine rechtskräftige nationale Gerichtsentscheidung eine entgegenstehende ablehnende Beihilfenentscheidung der Kommission übergeht[328]. Wird eine unionsrechtswidrig belastende Verwaltungsentscheidung dagegen bestandskräftig, ohne dass der Rechtsweg hiergegen ausgeschöpft wurde, so ist die Verwaltung grundsätzlich lediglich unter den nach nationalem Recht eingeräumten Voraussetzungen verpflichtet,[329] eine mögliche Rücknahme zu prüfen, nicht aber diese auch vorzunehmen.[330]
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Diese moderaten Vorgaben lassen sich aus der Sicht des deutschen Verwaltungsrechts bruchlos und verfassungskonform[331] in das Regelungssystem der §§ 48, 51 VwVfG integrieren.[332] Die unionsrechtliche Vollzugseffektivität, namentlich die Beseitigung einer unionsrechtswidrigen Wettbewerbsverzerrung, ist hierbei als ein ermessensleitender Gesichtspunkt unter anderen im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen.[333]
dd) Tendenzen zu Parallelrechtsordnungen und Spill-over-Effekte
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Insgesamt sind somit Tendenzen zu einer Herausbildung eines dualen Rechtsregimes für Fälle mit und ohne Unionsbezug – etwa bei der Rücknahme unionsrechtswidriger und (nur) nationalrechtswidriger Verwaltungsakte – zwar unverkennbar,[334] dürften aber eher eine Zwischenphase der Entwicklung darstellen.[335] Vieles spricht für die optimistische Annahme, dass sich die „Kraft der Systembildung“ mittelfristig gleichwohl durchsetzen und sich ein einheitliches nationales Verfahrensrecht herausbilden wird, das die Anforderungen des Unionsrechts und die hierdurch faktisch induzierten Spill-over-Effekte[336] in sich aufgenommen und verarbeitet hat. Eine europaweite „Egalisierung“ der Strukturen des Verwaltungsrechts und seiner Inhalte ist damit nicht gemeint. Sie ist mit Blick auf den Subsidiaritätsgrundsatz (Art. 5 Abs. 3 EUV) und den Schutz der nationalen (Verwaltungs-)Identität (Art. 4 Abs. 2 und 3 EUV)[337] auch nicht erforderlich und ließe die Kraft, die im „Wettbewerb der Rechtsordnungen“ steckt, auf lange Sicht ungenutzt.
a) Handlungsformenlehre, Handlungspraxis und Handlungssystem
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Die Handlungsformen der Verwaltung vermitteln als zentrale „Bündelungsbegriffe“ zwischen Tatbeständen und Rechtsfolgen. Fritz Ossenbühl hat das anschaulich mit dem Bild umschrieben, die Handlungsformen seien „die Tore, durch welche die in ihrer Vielfalt unüberschaubare, amorphe Tätigkeit der Verwaltung in die ordnende Welt des Rechts eingeschleust wird“[338]. Juristisch kondensiert kann man davon sprechen, dass sich in der Lehre von den Handlungsformen die Formidee und die Systemidee verbinden – beides typische Ausprägungen kontinentalen Rechtsdenkens.[339] Auch deshalb gilt die Handlungsformenlehre mit Recht als das Kernstück des Allgemeinen Verwaltungsrechts.[340]
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Ähnlich der Entwicklung im Verwaltungsorganisationsrecht ist auch bei den Handlungsformen der Verwaltung zunehmende Diversifikation zu verzeichnen.[341] Zu denken ist etwa an neue Formen des Verwaltungsakts[342] (z.B. fingierter Verwaltungsakt, Verwaltungsakt mit Drittwirkung). Diese neuen Formen stehen sowohl für die Rezeptionsoffenheit und damit Beständigkeit des Verwaltungsakts als auch für die Notwendigkeit aufgabenadäquater Weiterentwicklung des Bewährten.
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Trotz der Diversifikation und gerade wegen ihr bedarf es auch im Bereich der Handlungsformen einer regelmäßigen wissenschaftlichen Ordnung und Systembildung, welche die in der Handlungspraxis anzutreffende Formenvielfalt sichtet und – gegebenenfalls unter Zurückschneidung auf Grundkategorien – strukturiert sowie die immer häufigeren Formen- und Instrumentenverbünde („Mix“)[343] juristisch analysiert, beides unter Beachtung der Bedeutung des Verwaltungsverfahrens sowie der Lehre von den Maßstäben des Verwaltungshandelns.[344]
aa) Verwaltungsakt
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Der Verwaltungsakt, der in § 35 Satz 1 VwVfG legaldefiniert ist (mit dem Sonderfall der Allgemeinverfügung gemäß § 35 Satz 2 VwVfG) gilt bis heute als das klassische Instrument der deutschen Verwaltung, das weiterhin ganz im Zentrum der Verwaltungspraxis steht.[345] Der Verwaltungsakt erfüllt zunächst eine Konkretisierungsfunktion: Indem die Verwaltung die generell-abstrakten Regelungen auf einen konkreten Sachverhalt und einen bestimmten Bürger bezieht und das von Rechts wegen Gesollte mit Außenwirkung einseitig festsetzt, schafft sie konkret-individuelles Recht.[346] Zugleich ist der Verwaltungsakt ein Vollstreckungstitel.[347] Darüber hinaus hat der Verwaltungsakt eine Stabilisierungsfunktion, weil er im Rahmen seines Regelungsgehalts die zukünftige Rechtsbeziehung zwischen Bürger und Verwaltung aus sich heraus gestaltet.
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Die Gestaltungswirkung des Verwaltungsakts bleibt grundsätzlich selbst dann erhalten, wenn der Verwaltungsakt aus formellen oder materiellen Gründen rechtswidrig ist. Es gilt der Grundsatz der Bestandskraft von Verwaltungsakten. Er ist in dem Regelungssystem der §§ 43ff. VwVfG angelegt und in § 44 VwVfG – im Ergebnis dem Unionsrecht vergleichbar[348] – nur für bestimmte Fälle einer offensichtlichen und schwerwiegenden Fehlerhaftigkeit durchbrochen. Der Grundsatz der Bestandskraft wendet sich bei belastenden Verwaltungsakten zwar gegen den betroffenen Bürger, wird aber durch die Möglichkeit der Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte nach § 48 VwVfG sowie – in bestimmten Fällen – durch einen Anspruch auf ein Wiederaufgreifen des Verfahrens (§ 51 VwVfG) in Richtung auf das Gegenprinzip der Flexibilität des Verwaltungshandelns abgemildert.[349]
bb) Verwaltungsvertrag
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Die wichtigste Rechtsform für konsensuales Handeln der Verwaltung ist der öffentlich-rechtliche Vertrag, genauer gesagt, der Verwaltungsvertrag (§§ 54ff. VwVfG).[350] Wegen des Ungleichgewichts zwischen den Beteiligten erschienen für Otto Mayer „wahre Verträge des Staates auf dem Gebiete des öffentlichen Rechtes“ noch „überhaupt nicht denkbar“[351]. Durch § 54 Satz 2 VwVfG ist aber (auch) der subordinationsrechtliche Vertrag als Kategorie voll anerkannt. Daneben regeln die §§ 54ff. VwVfG auch den unproblematischen koordinationsrechtlichen Vertrag zwischen Verwaltungsträgern. Der Verwaltungsvertrag steht heute gleichberechtigt auf einer Stufe neben dem Verwaltungsakt (vgl. § 9 VwVfG); er ist zulässig, soweit nicht ausnahmsweise (z.B. Beamtenernennung, Steuerfestsetzung, Prüfungsentscheidung) ein Vertragsformverbot eingreift. Damit ist er sowohl rechtlich als auch empirisch zur Normalität der Verwaltung in Deutschland geworden.[352] Gleichwohl wird er in der Lehre zum Teil noch immer – zu Unrecht – als „atypische“ bzw. „irreguläre“ Handlungsform der Verwaltung angesehen.[353]
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Nach dem Grundsatz der Wahlfreiheit der Verwaltung stehen der öffentlich-rechtlich organisierten (Leistungs-)Verwaltung auch die Handlungsformen des Privatrechts offen.[354] Ob ein Vertrag als öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich anzusehen ist, richtet sich nach dem Charakter