Ius Publicum Europaeum. Paul Craig
die Mehrzahl der Verfahrensfehler, die nicht geheilt wurden, nach der prozessökonomisch begründeten und – abgesehen von einzelnen Durchbrechungen (vgl. erneut für die Umweltverträglichkeitsprüfung § 4 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 UmwRG[293]) – zu einem allgemeinen Fehlerfolgenprinzip („Auswirkungs-Kriterium“) hypostasierten[294] Vorschrift des § 46 VwVfG jedenfalls unbeachtlich, soweit „offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat“.[295]
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Ungeachtet dessen gründet auch das deutsche Verwaltungsverfahrensrecht auf allgemeinen rechtsstaatlichen Verfahrensgrundsätzen und Verfahrensrechten der Beteiligten, Dritter sowie der Öffentlichkeit.[296] Hierzu gehören insbesondere: der Amtsermittlungsgrundsatz, wonach die Behörde den relevanten Sachverhalt von Amts wegen sowie unparteiisch zu ermitteln hat (§ 24 VwVfG) und sich hierzu der erforderlichen Beweismittel bedienen darf (§ 26 VwVfG); die Anhörung Beteiligter, die nur in Ausnahmefällen unterbleiben darf (§ 28 VwVfG)[297] und das Recht der Beteiligten, Akteneinsicht zu erhalten (§ 29 VwVfG). Während im Unionsrecht eine Begründung obligatorisch ist (Art. 296 AEUV) und Verstöße in der Regel zur Aufhebung der Entscheidung führen, erkennt zwar auch das deutsche Verwaltungsrecht die Begründungspflicht als rechtsstaatliches Verfahrensprinzip an,[298] beschränkt diese aber auf schriftliche bzw. elektronische Verwaltungsakte (§ 39 Abs. 1 VwVfG), wobei es selbst hiervon teils weit reichende Ausnahmen vorsieht (§ 39 Abs. 2 VwVfG) und die Fehlerfolgen stark relativiert (§ 45 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3; § 46 VwVfG).
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Verwaltungsverfahren sind in Deutschland grundsätzlich nicht an eine bestimmte Form gebunden; sie sind „einfach, zweckmäßig und zügig durchzuführen“ (§ 10 VwVfG; vgl. für die europäische Ebene jetzt auch Art. 298 AEUV). Leitbild ist die der Ergebnisorientierung des deutschen Verwaltungsrechts entsprechende Effizienz des Verfahrens,[299] nicht seine Förmlichkeit. Auch das Verwaltungsverfahrensrecht kennt aber daneben besondere Verwaltungsverfahren.[300] Dies ist zum einen das förmliche Verwaltungsverfahren (§§ 63ff. VwVfG), das mit dem Herzstück der mündlichen Verhandlung (§§ 67f. VwVfG) dem Gerichtsverfahren angenähert ist. Zum anderen kommt gerade im Fachplanungsrecht[301] dem Planfeststellungsverfahren (§§ 72ff. VwVfG) besondere Bedeutung zu. Dieses zeichnet sich durch besonders anspruchsvolle, mit Elementen der planerischen Abwägung angereicherte prozedurale Instrumente aus, in deren Zentrum die Öffentlichkeitsbeteiligung steht.
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Gesetzliche Reformen seit Anfang der 1990er-Jahre haben die Förmlichkeit der Verwaltungsverfahren sukzessive zurückgedrängt und unter den Leitbildern der Beschleunigung, Deregulierung sowie Entbürokratisierung („Schlanker Staat“) zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland nicht nur Rechtsschutz abgebaut[302], sondern auch prozedurale Standards gelockert, insbesondere die Planfeststellung durch die Option der vereinfachten Plangenehmigung ersetzt (vgl. § 74 Abs. 6 VwVfG).[303] Überdies kam es in den letzten Jahren in Deutschland zu einer verstärkten Ausdifferenzierung des Verwaltungsverfahrens, bei der die „klassischen“ verfahrensrechtlichen Grundtypen (Verfahren der Gefahrenabwehr, Verfahren der Kontrolle privater Freiheitsbetätigung, Verfahren der Anlagenzulassung) durch „neue“ Verfahrenstypen (insbesondere Verteilungsverfahren, Qualitätssicherungsverfahren, Risikoverfahren) ergänzt wurden.[304]
aa) Prozeduralisierung
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Gerade im Verfahrensrecht verlangt die Europäisierung dem deutschen Verwaltungsrecht nicht unerhebliche Anpassungen ab.[305] Das geringe Gewicht von Verfahrensfehlern, das ein besonderes Kennzeichnen des deutschen Verwaltungsrechts darstellt, gerät dabei in einen tendenziellen Konflikt mit der stärkeren Betonung des Verfahrens im Unionsrecht.[306] Rechtsvergleichend macht sich hierin besonders der Einfluss angelsächsischer und vor allem französischer Rechtstraditionen bemerkbar.[307] Eine stärkere Verfahrensbetonung zeigt sich aber auch in der Rechtsprechung des EGMR.[308] Der Gerichtshof misst der Einhaltung hinreichender Verfahrensstandards über Art. 6, 13 EMRK hinaus entscheidende Bedeutung bei der Rechtfertigung von Eingriffen in durch die Konvention garantierte Menschenrechte zu.[309] Auch hierdurch wird das deutsche Verwaltungsrecht stärker für eine (notwendige) Ergänzung durch prozedurale Standards und eine „verfahrensfreundliche“ Auslegung sensibilisiert.
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Im Vergleich zum deutschen Verwaltungsrecht ist das Unionsrecht somit von seinem Grundansatz her prozeduraler ausgerichtet,[310] auch wenn eine vielfach zu geringe Normierungs- und Systematisierungsdichte im europäischen Verwaltungsrecht in gewissem Kontrast zu der betonten Bedeutung von Organisation und Verfahren steht.[311] Mit dem Hang des europäischen Rechts zur „Entmaterialisierung“ der normativen Entscheidungsprogramme ist das deutsche Denken von Haus aus wenig vertraut.[312] Insbesondere die §§ 45, 46 VwVfG zeugen von einer gewissen „Geringschätzung“ des Verfahrens.[313] Dem korrespondiert eine hohe materielle Kontrolldichte der Verwaltungsgerichte, die beim Ergebnis des Verfahrens – eben der verwaltungsbehördlichen Entscheidung ansetzt. Folgen hat die Verfahrensfreundlichkeit des Unionsrechts etwa – entgegen der Rechtsprechung des BVerwG[314] – für den Fall einer unterlassenen oder mit schwerwiegenden Fehlern behafteten Umweltverträglichkeitsprüfung (keine Unbeachtlichkeit des Fehlers gemäß § 46 VwVfG).[315] Auch eine Fehlerheilung nach § 45 Abs. 2 VwVfG muss unterbleiben, soweit diese eine effektive Durchsetzung des Unionsrechts vereiteln würde.[316]
bb) „Verfahrensautonomie“ der Mitgliedstaaten – Rücknahme unionsrechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte
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Gerade mit Blick auf das Verwaltungsverfahrensrecht gilt im Bereich des indirekten Vollzugs von Unionsrecht der Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten,[317] auch wenn in der europäischen Verwaltungs- und Rechtsprechungsrealität aufgrund der zahlreichen, zum Teil recht präzisen, aus Art. 4 Abs. 3 EUV abgeleiteten richterrechtlichen Vorgaben eine wirkliche „Autono- mie“ im Einzelfall kaum mehr erkennbar ist.[318] Im Übrigen ist noch nicht hinreichend geklärt, wo der „überschießende“ normative Gehalt des Grundsatzes der Verfahrensautonomie gegenüber den Prinzipien der begrenzten Einzelermächtigung, der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit liegen soll, bzw. ob der Grundsatz überhaupt dogmatischer oder doch nur summativer und heuristischer Natur ist.[319]
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Die besonders weit reichende Überformung der nationalen Rücknahme- und Erstattungsdogmatik bei unionsrechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakten (Beihilfebescheide) kann hierfür als Musterbeispiel gelten, auch wenn sie keiner Verallgemeinerung zugänglich ist: Von den §§ 48, 49a VwVfG bleibt insoweit nur noch eine fast völlig entkernte Hülle übrig.[320] Während § 48 VwVfG vom Gedanken des Vertrauensschutzes dominiert wird, sah sich der EuGH von Anfang an vor allem mit dem Problem eines unzureichenden Vollzugs des Unionsrechts konfrontiert. Insoweit bestand der Kollusionsverdacht, dass mitgliedstaatliche Verwaltungen zur Durchsetzung nationaler Interessen unionsrechtswidrig vergebene Fördermittel bewusst und unter Ausnutzung der Rücknahmehindernisse nicht zurückfordern.[321] Hierauf hat der Gerichtshof zwar im Grundansatz zutreffend, aber zu radikal reagiert, indem er zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen sowie unter Heranziehung der Loyalitätspflicht nach Art. 4 Abs. 3 EUV bei prinzipieller Anerkennung des Vertrauensschutzes ein grundsätzlich vorrangiges Gewicht des unionalen Vollzugsinteresses eingefordert und insoweit hinderliche Kautelen des deutschen Verwaltungsrechts (z.B. § 48 Abs. 4, § 49a Abs. 2 VwVfG) eingeebnet hat,[322] ohne einen effektiven Mindestvertrauensschutz zu gewährleisten.
cc) Verfahrenskonvergenz – Rücknahme unionsrechtswidriger belastender Verwaltungsakte
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