Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft - Societas Europaea. Hans-Peter Schwintowski
auf Verlangen des Vorstands, § 111 Abs. 4 S. 4 AktG) und dem einer besonderen Kapitalmehrheit, z.B. für die Erhöhung des Grundkapitals (§ 182 AktG) und den Abschluss von Unternehmensverträgen (§ 293 AktG), wobei jeweils eine Mehrheit von drei Vierteln des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals notwendig ist.[9]
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In Art. 59 Abs. 1 SE-VO ist geregelt, dass ein Beschluss zur Änderung der Satzung einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen bedarf, sofern die Rechtsvorschriften für AG im Sitzstaat der SE keine größere Mehrheit vorsehen oder zulassen. Dies ist im deutschen Aktienrecht der Fall, da § 179 Abs. 2 S. 1 AktG eine Mehrheit von drei Vierteln des bei der Beschlussfassung vertretenen Grundkapitals vorsieht. Allerdings erlaubt § 179 Abs. 2 S. 2 AktG eine davon abweichende Satzungsbestimmung. Aufgrund der Regelungen in Art. 59 Abs. 2 SE-VO i.V.m. § 51 SEAG ist dies auch für die SE zulässig, jedoch für eine Änderung des Gegenstands des Unternehmens nur eine größere Kapitalmehrheit.[10] Nach überwiegender Auffassung kann die SE-Satzung entsprechend § 179 Abs. 1 S. 2 AktG auch vorsehen, dass der Aufsichtsrat Satzungsänderungen vornehmen darf, welche nur die Fassung betreffen.[11]
1.4 Spezialverweisungen in der SE-VO
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In der SE-VO verweisen mehrere Artikel für bestimmte Gegenstände auf das nationale Recht:
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Art. 53 SE-VO bestimmt, dass für die Organisation und den Ablauf der Hauptversammlung sowie für das Abstimmungsverfahren unbeschadet der weiteren Bestimmungen des Abschnitts „Hauptversammlung“ der SE-VO die im Sitzstaat der SE für AG maßgeblichen Rechtsvorschriften gelten. Zur Organisation der Hauptversammlung kennt das deutsche Aktienrecht keine Regelungen. Auch das Abstimmungsverfahren – hierzu gehört insbesondere die Frage der Anwendung von Subtraktions- oder Additionsverfahren – ist im AktG nicht geregelt, sodass die Verweisung nicht greift. Hingegen ist der Ablauf der Hauptversammlung teilweise im dritten Unterabschnitt des AktG (§§ 129 ff.) geregelt. Hier ist insbesondere auf die Vorschriften zu einer Geschäftsordnung und zur Niederschrift der Hauptversammlung zu verweisen. Fraglich ist, ob auch das Auskunftsrecht des Aktionärs den Ablauf der Hauptversammlung betrifft. Hier kommt es darauf an, ob sich der Begriff „Ablauf“ nur auf die technische Organisation bezieht oder umfassend zu verstehen ist. Da die SE-VO die Organisation gesondert aufführt, ist Letzteres anzunehmen. Dies bedeutet, dass § 131 AktG einschließlich der dazu entwickelten Rechtsprechung für die Hauptversammlung einer SE mit Sitz in Deutschland maßgebend ist. Dies gilt auch für die Anwendbarkeit der im AktG bekannten Privilegien im Fall von nicht-börsennotierten bzw. Einpersonen-Gesellschaften, da die SE-VO hierfür keine Regelungen vorsieht.[12]
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Gem. Art. 54 Abs. 2 SE-VO kann die Hauptversammlung jederzeit vom Leitungs-, Aufsichts- oder Verwaltungsorgan oder von jedem anderen Organ oder jeder zuständigen Behörde nach den für AG im Sitzstaat der SE maßgeblichen einzelstaatlichen Rechtsvorschriften einberufen werden. Die Einberufungsgründe sowie die Durchführung der Einberufung richten sich also nach nationalem Recht. Im Zusammenhang mit der Einberufungszuständigkeit werden in der SE-VO alle nur denkbaren Organe genannt, sodass sich die Frage stellt, ob unabhängig von den nationalen Rechtsvorschriften sämtliche Organe zur Einberufung befugt sind oder ob das nationale Recht hiervon abweichen und diese Zuständigkeit einengen kann. Hier dürfte die Verweisung dahingehend auszulegen sein, dass sie sich nur auf das Einberufungsverfahren und nicht auch auf die Einberufungsberechtigten bezieht. Die in Art. 54 Abs. 2 SE-VO Genannten sind daher unabhängig vom nationalen Aktienrecht zur Einberufung einer Hauptversammlung berechtigt[13].
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Nach Art. 56 S. 2 SE-VO werden die Verfahren und Fristen für einen Antrag auf Ergänzung der Tagesordnung nach dem Recht des Sitzstaats der SE (oder sofern solche Vorschriften nicht vorhanden sind, nach der Satzung der SE) festgelegt. Für eine SE mit Sitz in Deutschland gilt also § 124 Abs. 1 S. 2 AktG, wonach die Ergänzung der Tagesordnung aufgrund eines Minderheitsverlangens i.S.d. § 50 Abs. 2 SEAG entweder bereits mit der Einberufung oder andernfalls unverzüglich nach Zugang des Verlangens bekannt zu machen ist.
1.5 Generalverweisung in Art. 9 Abs. 1 SE-VO
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Art. 9 Abs. 1 SE-VO als zentrale Vorschrift zum anwendbaren Recht beinhaltet in lit. c eine dreifache Verweisung auf nationales Recht. Diese gilt für die nicht durch die SE-VO geregelten Fragen oder, sofern eine Frage nur teilweise geregelt ist, für die nicht von der SE-VO erfassten Aspekte. Aufgrund dieser „Generalverweisung“[14] sind alle Fragen zum Thema Hauptversammlung, die nicht durch die SE-VO oder das SEAG geregelt sind, unter Heranziehung des deutschen Aktienrechts, insbesondere der §§ 118 ff. und 175 ff. AktG, zu lösen.
6 › I › 2. Zweck und Aufgabe der Hauptversammlung
2. Zweck und Aufgabe der Hauptversammlung
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In der SE werden die Rechte der Aktionäre in erster Linie durch die Hauptversammlung wahrgenommen. Außerhalb der Hauptversammlung stehen den Aktionären Rechte in den Angelegenheiten der Gesellschaft nur insoweit zu, als das Gesetz Satzungsbestimmungen erlaubt, die den Aktionären solche Rechte einräumen.[15] Spezielle Vorschriften hierzu gibt es weder in der SE-VO noch im SEAG. Im Übrigen gilt das nationale Recht, insbesondere zur Geltendmachung der Nichtigkeit und Anfechtung von Hauptversammlungsbeschlüssen (§§ 241 ff. AktG), der Erzwingung von Sonderprüfungen (§§ 142, 315 AktG) und der Geltendmachung von Ersatzansprüchen (§ 147 AktG).
6 › I › 3. Verhältnis zu den anderen Organen
3. Verhältnis zu den anderen Organen
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Zunächst ist festzuhalten, dass bei der SE die Hauptversammlung als das oberste Organ der Gesellschaft angesehen werden kann. Dies gilt sowohl für das dualistische als auch für das monistische System. Im dualistischen System werden – wie bei der deutschen AG – die Mitglieder des Aufsichtsorgans von der Hauptversammlung bestellt, sofern dies nicht aufgrund der Mitbestimmung der Arbeitnehmer anders geregelt ist. Das Aufsichtsorgan bestellt wiederum die Mitglieder des Leitungsorgans und beruft sie ab. Im monistischen System wird das einheitliche Verwaltungsorgan ebenfalls von der Hauptversammlung gewählt. Für die SE gilt, dass durch die Satzung kein allgemeiner Zustimmungsvorbehalt für Geschäftsführungsmaßnahmen zugunsten der Hauptversammlung festgelegt werden kann. Dies ergibt sich aus dem Grundsatz des Art. 39 Abs. 1 SE-VO, nach dem das Leitungsorgan die Geschäfte der SE in eigener Verantwortung führt. Entsprechendes ist für das monistische System in Art. 43 Abs. 1 SE-VO festgelegt. Für die Einflussmöglichkeiten der Hauptversammlung kommt es deshalb entscheidend darauf an, welche Kompetenzen ihr durch die Satzung der SE zugewiesen werden.
6 › I › 4. Ordentliche und außerordentliche Hauptversammlung
4. Ordentliche und außerordentliche Hauptversammlung
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Eine Unterscheidung zwischen ordentlicher und außerordentlicher Hauptversammlung kennt die SE-VO nicht. Wie bei der deutschen AG kann als ordentliche Hauptversammlung die jährlich einzuberufende Hauptversammlung