Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft - Societas Europaea. Hans-Peter Schwintowski
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Für das dualistische System gibt Art. 39 Abs. 2 S. 2 1. Alt. SE-VO dem nationalen Gesetzgeber grundsätzlich die Möglichkeit, die Bestellung und Abberufung der Mitglieder des Leitungsorgans auf die Hauptversammlung zu übertragen, und zwar unter den Bedingungen, die für AG im Sitzstaat der SE gelten. Eine solche Vorschrift wurde im SEAG nicht umgesetzt und liefe ins Leere, da nach deutschem Aktienrecht für keinen Fall vorgesehen ist, dass die Hauptversammlung über Bestellung und/oder Abberufung des Vorstands entscheidet.[5]
6 › II › 2. Recht für nationale Aktiengesellschaften
2. Recht für nationale Aktiengesellschaften
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Das Recht für nationale AG weist der Hauptversammlung der SE über die generelle Verweisung in Art. 9 Abs. 1 c ii SE-VO sowie die spezielle Verweisung in Art. 52 Abs. 2 S. 2 1. Alt. SE-VO weitere Zuständigkeiten zu.
2.1 § 119 Abs. 1 AktG
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§ 119 Abs. 1 AktG ist auch für die SE grundsätzlich zwingend. Folgende besonders wichtige Zuständigkeiten sind in § 119 Abs. 1 AktG ausdrücklich erwähnt, wobei die Einzelheiten an anderer Stelle im Gesetz geregelt sind: die Verwendung des Bilanzgewinns (§ 174 AktG); die Entlastung der Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats (§ 120 AktG);[6] die Bestellung von Prüfern zur Prüfung von Vorgängen bei der Gründung oder der Geschäftsführung (§ 142 Abs. 1 AktG); Maßnahmen der Kapitalbeschaffung (§ 182 AktG) und der Kapitalherabsetzung (§ 222 AktG); die Auflösung der Gesellschaft (§ 262 AktG);[7] die Bestellung des Abschlussprüfers (§ 318 HGB).
2.2 § 111 Abs. 4 S. 3 AktG/§ 119 Abs. 2 AktG
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Die Verantwortung für die Geschäftsführung im dualistischen System – nur dieses regelt das deutsche Aktiengesetz – liegt grundsätzlich beim Vorstand.[8] In bestimmten Fällen kann aber der Vorstand eine Entscheidung der Hauptversammlung in Fragen der Geschäftsführung „verlangen“.[9] So gibt ihm § 111 Abs. 4 S. 3 AktG konkret das Recht, die Hauptversammlung zu einer Entscheidung in den Fällen zu veranlassen, in denen der Aufsichtsrat zuständigkeitshalber seine Zustimmung zu Maßnahmen der Geschäftsführung versagt hat. § 119 Abs. 2 AktG weist der Hauptversammlung darüber hinaus allgemein die Zuständigkeit zur Entscheidung in allen Fällen zu, in denen der Vorstand dies „verlangt“. Das Verlangen hat der Gesamtvorstand nach einstimmiger Beschlussfassung an die Hauptversammlung heranzutragen.[10] Die Hauptversammlung ist allerdings nicht verpflichtet, dem Begehren des Vorstands Folge zu leisten; sie kann eine Beschlussfassung ablehnen. Dann ist wieder der Vorstand dasjenige Organ, das selbst zu entscheiden hat.[11] Sollte die Hauptversammlung gemäß dem Antrag des Vorstands einer Geschäftsführungsmaßnahme zustimmen, kommt auch die Haftungsbefreiung des § 117 Abs. 2 S. 2 AktG über die Generalverweisung Art. 9 Abs. 1 c SE-VO zur Anwendung.
2.3 Sonstige Fälle
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Das deutsche Aktienrecht enthält an verschiedenen Stellen weitere Zuständigkeiten der Hauptversammlung. Im Einzelnen sind dies die Folgenden:
– | Verzicht und Vergleich über Ersatzansprüche der Gesellschaft gegen Gründer sowie Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder (§§ 50, 93 Abs. 4, 116 AktG); |
– | Zustimmung zu Nachgründungsverträgen (§ 52 AktG); |
– | Verlangen von Maßnahmen zur Vorbereitung von Hauptversammlungsbeschlüssen (§ 83 Abs. 1 AktG); |
– | Entzug des Vertrauens gegenüber Vorstandsmitgliedern (§ 84 Abs. 3 S. 2 AktG); |
– | Abberufung von Aufsichtsratsmitgliedern (§ 103 Abs. 1 AktG); |
– | Festsetzung der Aufsichtsratsvergütung (§ 113 Abs. 1 S. 2 AktG); |
– | Votum zum Vergütungssystem bei börsennotierter AG (§ 120 Abs. 4 AktG) |
– | Entscheidung über die Geltendmachung von Ersatzansprüchen aus der Gründung oder aus der Geschäftsführung (§ 147 AktG); |
– | Feststellung des Jahresabschlusses, wenn der Aufsichtsrat den vom Vorstand aufgestellten Jahresabschluss nicht billigt (§§ 171 Abs. 2 S. 4, 173 Abs. 1 AktG) oder wenn Vorstand und Aufsichtsrat die Feststellung des Jahresabschlusses der Hauptversammlung überlassen (§§ 172 Abs. 1, 173 Abs. 1 AktG); |
– | Entgegennahme von Jahresabschluss und Geschäftsbericht (§§ 175 Abs. 1, 176 Abs. 1 AktG); sowie bei börsennotierter AG Zugänglichmachung des erläuternden Berichts zu den Angaben nach §§ 289 Abs. 4, 315 Abs. 4 HGB; |
– | Zustimmung zu Verträgen, durch die sich eine AG zur Übertragung des ganzen Gesellschaftsvermögens verpflichtet, ohne dass die Übertragung unter die Vorschriften des Umwandlungsgesetzes fällt (§ 179 a AktG); |
– | im Rahmen einer Sonderprüfung Entscheidung über die Verwendung des Ertrags, der aufgrund einer höheren Bewertung entsteht (§ 261 Abs. 3 S. 2 AktG); |
– | Bestellung und Abberufung von Abwicklern, wenn diese nicht vom Gericht bestellt sind (§ 265 Abs. 2 und 5 AktG); |
– | im Zusammenhang mit einer Abwicklung Entscheidung über die Vertretungsregelung der Gesellschaft (§ 290 Abs. 1 AktG); |
– | Feststellung der Eröffnungsbilanz und des Jahresabschlusses während der Abwicklung (§ 270 Abs. 2 AktG); |
– | Entlastung von Abwicklern und Mitgliedern des Aufsichtsrats während der Abwicklung (§ 270 Abs. 2 AktG); |
– | Beschluss über die Fortsetzung einer aufgelösten Gesellschaft (§ 274 AktG); |
– | Zustimmung zum Abschluss und zur Änderung eines Unternehmensvertrags (§§ 293 Abs. 1, 295 Abs. 1 AktG). |
2.4 UmwG
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Die SE-VO trifft für nationale Umwandlungsvorgänge unter Beteiligung einer SE keine eigenständigen Regelungen und entfaltet diesbezüglich auch keine Sperrwirkung.[12] Für den Fall der Verschmelzung einer SE mit einer nationalen AG oder die Verschmelzung von zwei nationalen SE[13] ergibt sich aus Art. 52 Abs. 2 S. 2 SE-VO i.V.m. §§ 65 Abs. 1, 13 Abs. 1 UmwG eine weitere Zuständigkeit der Hauptversammlung. Für die Rückumwandlung einer SE in eine AG gilt Art. 66 SE-VO.