Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren. Steffen Stern
oder Vergeltungsaktion
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Zu unterscheiden hiervon sind Konstellationen, in denen der Täter (Vater oder Mutter) dem Tatopfer gegenüber destruktiv eingestellt ist[186] oder mit dem Tod eines Kindes den anderen (überlebenden) Elternteil abstrafen will. Beispielhaft kann für diese Fallgruppe die Tötung zweier schlafender Kinder durch Messerstiche in die Brust durch den suizidalen Familienvater angeführt werden, der die Trennungsentscheidung seiner Ehefrau nicht verkraften konnte. Das Mordmerkmal der „niedrigen Beweggründe“ war nur deshalb nicht erfüllt, weil die Absicht des Angeklagten, seine Ehefrau zu bestrafen oder sich an ihr zu rächen, nicht dominant, sondern nur eines von mehreren Motiven innerhalb eines ganzen Bündels war[187]. Verworfen hat der BGH die Revision eines wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilten Vaters, der, um sich an seiner Frau zu rächen, die gemeinsame Tochter aus dem Fenster im 2. Stock eines Wohnhauses geworfen hatte. Das Kleinkind überlebte den Sturz schwer verletzt[188].
g) Eltern, die ihre Kinder verhungern oder verdursten lassen
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Erschreckend lang ist die Liste der Kinder, die an Unterernährung gestorben oder verdurstet sind, weil die Eltern ihnen Essen und Trinken vorenthalten haben[189]. Und manch ein Kind konnte erst in letzter Minute vor dem sicheren Hungerstod bewahrt werden. Typisch ist der folgende Fall: Die Angeklagte, die mit ihren 2 und 4 Jahre alten Söhnen zusammenlebte, plante, zu Weihnachten einen weit entfernten Freund zu besuchen, über Nacht zu bleiben und anderentags wieder zurückzureisen. Sie reiste mit dem 4-jährigen Jungen ab und ließ den 2-Jährigen in seinem Gitterbett mit einer Babytrinkflasche mit 280 ml Flüssigkeit und einigen Butterkeksen zurück. Dieser Junge kränkelte seit Tagen, hatte in kurzer Zeit stark an Gewicht verloren und nahm auch kaum noch Nahrung und Flüssigkeit zu sich. Um eine Betreuung hatte sich die Angeklagte vergeblich bemüht. Sie entschloss sich dann, einen Tag länger als geplant bei ihrem Freund zu bleiben. Diesem spiegelte sie vor, dass zu Hause die betreuende Freundin weiterhin auf das Kind aufpassen würde. Als die Angeklagte verspätet zurückkehrte, bemerkte sie, dass die Kekse und die Trinkflasche, deren Inhalt möglicherweise verschüttet war, neben dem Bett lagen. Sie sah, dass es dem Jungen sehr schlecht ging. In den nächsten Stunden aß er nichts und trank kaum noch. Die Angeklagte holte keinen Arzt, da sie „fürchtete, dass dieser das Jugendamt verständigt hätte. Sie dachte, sie könne das Kind allein gesund pflegen“. 2 Tage später verstarb der Junge infolge Nahrungs- und Flüssigkeitsmangels. Das Kind wies zum Todeszeitpunkt deutliches Untergewicht auf. Am Abreisetag der Angeklagten hätte der Junge bei intensiv-medizinischer Behandlung noch gerettet werden können. Für den Zeitpunkt der Rückkehr der Angeklagten konnte dies nicht sicher festgestellt werden[190].
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Am Anfang steht die Frage nach der eigentlichen Todesursache, eng verknüpft damit die Frage der Todeskausalität der Untätigkeit der Angeklagten sowie der Vorhersehbarkeit und der Vermeidbarkeit des Todeserfolges. Hier sind zunächst die Gerichtsmediziner gefragt. Der Sachverhalt ließ schon bei der Kindesmutter einen psychischen Defekt vermuten. Wie der hinzugezogene Psychiater herausfand, litt sie an einer Borderline-Störung. Problematisch, wie immer in diesen Fällen, war die Frage nach der Bewusstseinslage der Angeklagten zum Zeitpunkt der Abreise und zum Zeitpunkt der Rückkehr. Tatbestände? Mord, Misshandlung Schutzbefohlener, Aussetzung mit Todesfolge?
6. Angriffe alkoholisierter Gewalttäter
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Drei von zehn aufgeklärte Gewaltdelikte wurden 2010 von Tatverdächtigen unter Alkoholeinfluss begangen. Sogar 40 % betrug der Anteil bei den aufgeklärten Totschlagsdelikten (einschl. Tötung auf Verlangen)[191]. Unter den 834 Mordverdächtigen fanden sich immerhin noch 131 Personen, die bei Begehung der Tat unter Alkoholeinfluss standen (15,7 %)[192]. Bei Mord im Zusammenhang mit Raub war sogar noch bei 19,0 % der Tatverdächtigen Alkohol im Spiel[193].
a) „Sinnlose“ Gewalt durch alkoholisierte Schläger
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Wir alle haben erschreckende Beispiele vor Augen: Im September 2009 wurde in einer beispiellosen Gewaltorgie auf Dominik Brunner, dem S-Bahn-Held von Solln, eingeschlagen und eingetreten. Brunner hatte sich in der Münchener S-Bahn schützend vor eine Schülergruppe gestellt, die von zwei Schlägern bedroht worden war. Die herbeigerufenen Notärzte konnten ihn nicht wiederbeleben. Die Pathologen zählten 22 sehr schwere Verletzungen an Kopf und Oberkörper, dazu weitere 20 Abschürfungen, Kratzer, Prellungen. Aber keine der Verletzungen war alleine tödlich. Auch Hirnblutung, Herzinfarkt oder Schädelbruch wurden als Ursache ausgeschlossen[194]. Die beiden Schläger wurden zu hohen Strafen verurteilt, der Haupttäter, der zur Tatzeit über 2 ‰ Alkohol im Blut hatte, wegen Mordes aus Rachsucht, sein Mittäter wegen Körperverletzung mit Todesfolge. Brunner starb nach Feststellung des LG München I nicht an den Verletzungen, sondern an einem Herzstillstand. Unmittelbare Todesursache war ein Kammerflimmern seines vorgeschädigten Herzens infolge der Schläge[195].
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Im April 2011 haben mitten in Berlin, im zentralen U-Bahnhof Friedrichstraße, zwei Jugendliche einen 29-Jährigen vor laufenden Überwachungskameras fast totgetreten. Zu sehen ist, wie der Täter dem 29-jährigen Opfer mit voller Wucht auf den Kopf springt[196]. Auf einigen Aufnahmen der Überwachungskamera ist deutlich zu erkennen, dass die Täter Bierflaschen in der Hand halten und kaum noch geradeaus gehen können.
b) Gewalthandlungen unter Zechbrüdern
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Schwurgerichtsvorsitzende müssten der vielen Totschlagsanklagen gegen Gewohnheitstrinker, allen voran die Tatverdächtigen aus dem Penner- und Stadtstreichermilieu, längst überdrüssig sein. Erst zechen die Trunkenbolde miteinander bis zur Besinnungslosigkeit, dann bringen sie sich im Gezänk über Belanglosigkeiten um. Nicht selten ist auch das Opfer sturzbetrunken. Was die Alkoholisierung und die Gewaltbereitschaft angeht, gleicht ein Fall dem anderen: Da erschlägt eine trinkgewohnte Angeklagte ihren Lebensgefährten im Verlauf eines Zechgelages aus nichtigem Anlass mit einem Hammer; Tatzeit-BAK deutlich über 3 ‰[197]. Im Streit um eine unberechtigte Geldforderung misshandelt ein volltrunkener „Alkoholiker mit pathologischer Intelligenzminderung“ (maximale BAK „um 3 ‰“; IQ: 55) seinen ihm körperlich unterlegenen Zechkumpanen, „mit dem er häufig gemeinsam Alkohol trank“, durch Schläge und Tritte, an deren Folgen dieser verstirbt. Schon einmal war der Täter wegen einer im Alkoholrausch (BAK 2,5 bis 3 ‰) begangenen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt worden[198].
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Und erst jetzt wieder eine tödlich verlaufene Auseinandersetzung im „sogenannten Trinkermilieu am Berliner Ost-Bahnhof“. Der Täter 27 Jahre alt, aus Polen stammend, Alkoholiker; das Opfer, ein 59 Jahre alter Alkoholkranker. Beim gemeinsamen Zechen gab es plötzlich Streit um eine Schachtel Zigaretten. Nach großem Hin und Her versetzte der Täter dem auf einer niedrigen Mauer sitzenden Geschädigten schließlich einen kräftigen Tritt seitlich gegen den Kopf, sodass dieser nach hinten in eine Rabatte fiel und dort zunächst einige Stunden unbeachtet liegen blieb. Er verstarb wenig später im Krankenhaus an Gehirnblutungen[199].
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Der hohe Anteil dieser Fallgruppe spiegelt sich auch in der Zahl weiterer einschlägiger BGH-Entscheidungen wider. So ging im Revisionsverfahren 5 StR 668/96[200] der abgeurteilten Körperverletzung mit Todesfolge (bei einer Tatzeit-BAK um 3,61 ‰) ein Streit unter Zechbrüdern voraus. Im Verfahren 4 StR 147/03[201] betrug die BAK des wegen Vollrausches verurteilten Angeklagten zur Tatzeit 4,02 ‰, als er seinen Zechgenossen durch Schläge mit der Faust und einer Taschenlampe sowie durch Fußtritte misshandelte,