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Diese müssen aus rationalen Gründen den Schluss erlauben, dass das festgestellte Geschehen mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der Wirklichkeit übereinstimmt. In Verurteilungsfällen verlangt das verfassungsrechtlich verankerte Gebot rational begründeter und tatsachengestützter Beweisführung die Einbeziehung wissenschaftlicher Erkenntnisse, insbesondere aus kriminalistischen, forensischen und aussagepsychologischen Untersuchungen gewonnener Erfahrungsregeln in die Beweiswürdigung[251]. Das ist der Nachprüfung durch das Revisionsgericht zugänglich. Die Beweiswürdigung muss – anhand der Urteilsgründe nachvollziehbar – auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsehbaren Tatsachengrundlage beruhen und die vom Gericht gezogenen Schlussfolgerungen dürfen sich nicht nur als eine Annahme oder bloße Vermutung erweisen, die letztlich nicht mehr als einen Verdacht zu begründen vermögen[252].
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Kann andererseits der Tatrichter nicht die erforderliche Gewissheit vom Tathergang oder der Tatbeteiligung des Angeklagten gewinnen und spricht er den Angeklagten frei, weil er Zweifel an dessen Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so hat das Revisionsgericht auch dies regelmäßig hinzunehmen, sofern dem Tatrichter kein Rechtsfehler unterlaufen ist[253], indem die Beweiswürdigung gegen Denkgesetze oder gesichertes Erfahrungswissen verstößt oder in sich widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist[254] oder das Gericht den Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ nicht erst im Rahmen einer abschließenden Gesamtwürdigung, sondern unzulässigerweise bereits zuvor isoliert auf einzelne Indizien anwendet[255]. Sind derartige Mängel nicht erkennbar, kommt es nach st. Rspr. des BGH nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte[256]. Daran ändert sich nicht einmal dann etwas, wenn eine vom Tatrichter getroffene Feststellung „lebensfremd erscheinen“ mag[257]. Im Strafprozess gibt es keinen Beweis des ersten Anscheins, der auf der Wahrscheinlichkeit eines Geschehensablaufes und nicht auf Gewissheit beruht[258]. Bei einem Freispruch prüft der BGH auch, ob das Tatgericht überspannte Anforderungen an die für die Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt oder nach den Feststellungen nicht nahe liegende Schlussfolgerungen gezogen hat, ohne tragfähige Gründe anzuführen, die dieses Ergebnis stützen können. Denn es ist nach Ansicht des BGH weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zugunsten eines Angeklagten Tatvarianten zu unterstellen, für deren Vorliegen keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte vorhanden sind. Erkennt das Tatgericht trotz (verbliebenen) erheblichen Tatverdachts auf Freispruch, muss die schriftliche Urteilsbegründung erkennen lassen, dass es in seine Beweiswürdigung auch alle gewichtigen, gegen den Angeklagten sprechenden Umstände und Erwägungen einbezogen und in einer Gesamtwürdigung betrachtet hat[259].
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Soweit die Theorie. In der Praxis hält sich der BGH gerade in Kapitalstrafsachen ersichtlich alle Möglichkeiten offen, das Votum des Tatgerichts zu korrigieren, wie sich an drei durchaus repräsentativen Fällen veranschaulichen lässt: Im sogenannten Pistazieneis-Fall war ein kleines Kind an einer Arsenvergiftung gestorben. Wegen Mordes angeklagt und zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt wurde seine Tante, die ihm Pistazieneis mit Schokoladensoße zu essen gegeben hatte, dem nach Auffassung des Gerichts eine hochtoxische Dosis einer Arsenverbindung beigemengt war. Ein plausibles Tatmotiv konnte nicht festgestellt werden. Andere in Betracht kommende Personen hatte das SchwurG als Täter ausgeschlossen. Dieses Urteil hob der BGH 1996 auf[260]. Die Frau wurde jedoch nach Zurückverweisung abermals des Mordes für schuldig befunden. Auf ihre erneute Revision hat der BGH die Angeklagte 1999 schließlich freigesprochen. Es fehle an tragfähigen Tatsachen. Ein Motiv habe wiederum nicht festgestellt werden können, unmittelbar tatbezogene Indizien seien nicht vorhanden, die Tatbegehung sei immer noch „kaum verständlich“; andere Ursachen für den Tod des Kindes seien nicht ausgeschlossen. Bei dieser Sachlage fehle es endgültig an einer objektiv hohen Wahrscheinlichkeit der Tatbegehung durch die Angeklagte, die Voraussetzung für eine Verurteilung gewesen wäre und die durch die erforderliche subjektive richterliche Überzeugung auch nicht ersetzt werden könne.[261]
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So überfällig der Freispruch war, so bedrückend ist, dass sich überhaupt zwei (!) Schwurgerichte bereit gefunden haben, die verzweifelte Frau aufgrund reiner Mutmaßungen lebenslang ins Gefängnis zu schicken.
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Weniger Glück hatte ein Angeklagter, der auf ähnlich dürftiger Tatsachenbasis wegen Totschlags zum Nachteil seiner Ehefrau verurteilt worden war. Vier Monate galt die Frau als vermisst, bis ihre Leiche Kilometer von ihrem Heimatort entfernt in Frankreich, vergraben in einem Erdloch, entdeckt wurde. Als wahrscheinliche Todesursache nahmen die Gerichtsmediziner Ersticken mit einem weichen Textilgegenstand an, konnten aber auch eine Vergiftung als Todesursache nicht ausschließen. Spuren von sonstiger Gewaltanwendung waren nicht festgestellt worden, die Kleidung des Opfers war geordnet. Der Angeklagte, der die Tat bis zuletzt bestritt, hatte behauptet, seine Frau sei damals unter Mitnahme ihrer persönlichen Habe verschwunden. Zuvor habe sie von den gemeinsamen Konten 4.000,00 DM abgehoben. Der BGH[262] hat den kühnen Schuldspruch bestätigt. Es sei allein dem Tatrichter übertragen, ohne Bindung an Beweisregeln eigenverantwortlich zu prüfen, ob er an sich mögliche Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Geschehen überzeugen könne. Es sei nicht zu beanstanden, dass und mit welcher Begründung das SchwurG eine heimliche Flucht der Ehefrau und die Täterschaft eines unbekannten Dritten ausgeschlossen habe.
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Auch eine denkbare Tatprovokation durch das Opfer sei rechtsfehlerfrei verneint worden. Der Zweifelssatz komme nicht zur Anwendung, weil die erforderlichen konkreten Anhaltspunkte für eine vorangegangene Kränkung fehlten. Zwar dürfe dem Täter kein Nachteil daraus erwachsen, dass er die Tat bestreite (!) und damit nicht in der Lage sei, Umstände vorzutragen, die sich strafmildernd auswirken können. Deshalb sei in solchen Fällen von der für den Angeklagten günstigsten Möglichkeit auszugehen, die nach den gesamten Umständen in Betracht kämen. Der Zweifelssatz bedeute jedoch nicht, dass das Gericht von der dem Angeklagten jeweils (denkbar) günstigsten Fallgestaltung auch dann ausgehen müsse, wenn hierfür keine Anhaltspunkte bestehen[263]. Solche habe die Strafkammer zu Recht nicht gesehen. Denn allein die Tatsache, dass der Angeklagte sich im Verlauf eines Streites mit der Ehefrau zu einer derartigen Gewalttat hinreißen ließ, lege „für sich genommen“ noch nicht nahe, dass es zu einer Tatprovokation durch das Tatopfer gekommen sei[264].
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Dass der BGH nach Belieben unterschiedliche Maßstäbe anlegt, ist evident. Eine die Tat auslösende Provokation vonseiten der Ehefrau war – gemessen an den Urteilsfeststellungen – nicht weniger wahrscheinlich als ein vom Angeklagten vom Zaun gebrochener Streit. Für beide Annahmen gab es keinerlei unmittelbaren oder auch nur mittelbaren tatsächlichen Anhaltspunkt, geschweige denn einen Beweis. De facto erzeugt der BGH unzulässigen Aussagezwang und nimmt ausgerechnet im Totschlagsbereich durch Suspendierung des Zweifelssatzes sehenden Auges schwerwiegende Fehlurteile in Kauf. Dieses BGH-Urteil ist eine Warnung an uns Strafverteidiger, unseren Schützlingen und uns selbst nie vorzugaukeln, der anstehende Mord- oder Totschlagsprozess könne angesichts vorherrschender Beweisarmut „nur“ mit einem Freispruch enden. Schon die Zulassung einer Mord- oder Totschlagsanklage auf vergleichbar dünner Verdachtslage ist immer ein bedrohliches Alarmzeichen, das zu größter Wachsamkeit anspornen und die Frage der Einlassung[265] in den Mittelpunkt der Verteidigungsüberlegungen rücken muss.
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Bleibt als drittes Beispiel der immer noch kontrovers diskutierte Schwurgerichtsfall der Monika Weimar (Böttcher), die 1988 vom LG Fulda wegen