Verteidigung in Mord- und Totschlagsverfahren. Steffen Stern
verurteilt worden war. Der BGH hatte das Urteil im Frühjahr 1989 bestätigt[266]. Nach erfolgreichem Wiederaufnahmeverfahren[267] im Jahre 1995 schien der Verteidigung das „juristisch beinahe Unmögliche“ geglückt zu sein: Am Ende einer äußerst gründlichen Beweisaufnahme (von Juni 1995 bis April 1997) verkündete das LG Gießen einen Freispruch. Doch der von StA und Nebenklage angerufene BGH[268] fand Widersprüche und Lücken, um das Urteil 1998 kassieren zu können. Den Gießener Richtern, die Zweifel an der Täterschaft der Angeklagten nicht überwinden konnten, hielt der BGH vor, überspannte Anforderungen an den Tatnachweis gestellt zu haben. Das LG Frankfurt/M., an das der Fall zurückverwiesen worden war, benötigte nur drei Monate, um sich von der Schuld der Angeklagten zu überzeugen und im Dezember 1999 erneut auf „lebenslänglich“ zu erkennen. Monika Böttcher wurde noch im Gerichtssaal verhaftet. Mit der – schmucklosen – Verwerfung ihrer Revision am 28.08.2000 zog der BGH einen (vorläufigen) Schlussstrich.
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Jahrein, jahraus werden so aus dem fernen Karlsruhe (1. bis 4. Strafsenat) oder aus Leipzig (5. Strafsenat) von berechtigten Zweifeln geleitete Freisprüche kassiert und mit handfesten Vorgaben (sog. Segelanleitungen) einer erneuten Überprüfung zugeführt[269], obwohl es sich in Kapitalstrafsachen zumeist um gründlich überlegte Gewissensentscheidungen besonders erfahrener Kollegialgerichte handelt. Nicht selten lautet der Vorwurf, das SchwurG habe überspannte Anforderungen an die für die Verurteilung erforderliche Gewissheit[270] oder an die Annahme bedingten Tötungsvorsatzes[271] bzw. an das Willenselement[272] gestellt oder habe seiner Beweiswürdigung entlastende Angaben des Angeklagten zugrunde gelegt, ohne sie in ihrem Wahrheitsgehalt näher überprüft zu haben. Zwar ist der Tatrichter nicht an starre Beweisregeln gebunden, aber in seiner Entscheidung frei scheint er bei Freisprüchen nur zu sein, soweit es dem BGH im Einzelfall beliebt.
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VI. Absprachen in Schwurgerichtsverfahren
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Am 04.08.2009 ist die gesetzliche Regelung zur Verständigung im Strafverfahren in Kraft getreten, die mit weitreichenden Dokumentations- und Mitteilungspflichten die notwendige Transparenz bei Prozessabsprachen schaffen soll. Eine Verständigung über den Schuldspruch sowie Maßregeln der Besserung und Sicherung ist ausgeschlossen[273]. Ob das Gesetz[274] den Schwurgerichtsalltag nachhaltig verändert hat, dürfte zu bezweifeln sein. Folgt man den Angaben Fischers[275], der über verfahrensbeendende Absprachen bei Kapitalverbrechen berichtet hat, ist bisher in der Praxis vor den Schwurgerichten über Mordmerkmale, die Schuldform oder die Sicherungsverwahrung „gedealt“ worden. Als „Gegenleistung“ wurden dabei namentlich das Geständnis, der Verzicht auf Beweiserhebungen, die Rücknahme von Beweisanträgen oder der Verzicht auf Haftprüfungsanträge erwartet, aber auch das Einverständnis mit prozessordnungswidrigem Verhalten, belastende Aussagen gegen Tatbeteiligte oder der Rechtsmittelverzicht in anderen Verfahren. Aus meiner persönlichen Erfahrung sind verfahrensbeendende Absprachen in Schwurgerichtsverfahren eher die Ausnahme. Die Rechtsprechung des BGH beweist, dass allen rechtlichen Einwänden zum Trotz in Mordfällen durchaus auch „Vergleiche“ über den Schuldspruch geschlossen werden (z.B. Anklage wegen Mordes, Verurteilung wegen Raubes mit Todesfolge)[276].
Anmerkungen
PKS 2010, Polizeiliche Kriminalstatistik Bundesrepublik Deutschland, Berichtsjahr 2010 (BKA 2011), S. 33 (T4).
PKS 2010, S. 143 (T96).
PKS 2010, S. 160 (T119).
Einschl. Aussetzung gem. § 221 StGB und fahrlässige Tötung gem. § 222 StGB.
IMK-Kurzbericht zur PKS 2010, S. 14; 2. Periodischer Sicherheitsbericht (2. PSB), 2006, Hrsg. BMI und BMJ, S. 23.
PKS 2010, S. 240 (T220).
StatBA (Statistisches Bundesamt), Datenreport 2011, Öffentliche Sicherheit und Strafverfolgung, S. 290.
86,4 % männlich und 13,6 % weiblich bei Mord; PKS 2010, S. 97 (T48).
PKS 2010, S. 142 (T93).
IMK-Kurzbericht zur PKS 2010, S. 21 (T17); PKS 2010, S. 67 (T17).
PKS 2010, Tabellenanhang, Tabelle 91, S. 1.
PKS 2010, Tabellenanhang, Tabelle 91, S. 17.
PKS 2010, S. 143 (T97).
Thomas Seifert, Die Presse.com, v. 29.12.2008.
Harris et al., Murder and Medicine: The Lethality of Criminal Assault 1960-1999, Homicide Studies, Vol. 6 No. 2, 2002.
BZ-Online v. 05.06.2009.
PKS 2010, S. 144 (T98).
1. Periodischer Sicherheitsbericht (1. PSB), 2001, Hrsg. BMI und BMJ, S. 3 und S. 47.
PKS 2010, S. 141/142 (T92); S. 240 (T220) u. Anhang Tabelle 91 S. 1.
PKS 2010, S. 141 (T91).
PKS 2010, S. 130 (T78) und S. 142 (T94).