Arztstrafrecht in der Praxis. Klaus Ulsenheimer
Verteidigung für die PJ‚lerin geltend, ihr sei nach Maßgabe des Vertrauensgrundsatzes die fehlerhafte Medikation nicht zuzurechnen, weshalb gegen sie auch kein Schuldvorwurf zu erheben sei. Dem folgte die Staatsanwaltschaft und stellte das Ermittlungsverfahren gegen die PJ‚lerin gem. § 170 Abs. 2 StPO ein.
7. | Anders gestaltete sich eine Medikamentenverwechslung durch einen PJ‚ler, der vom Amtsgericht Bielefeld wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe von 1.800 € verurteilt wurde. Auf seine Berufung bestätigte das Landgericht Bielefeld den Schuldspruch, änderte allerdings das Strafmaß: Zwar muss der Student eine Geldstrafe in Höhe von – nach wie vor – 1.800 € zahlen, doch wurde dabei die Tagessatzanzahl von 120 auf 90 reduziert, weshalb keine im polizeilichen Führungszeugnis erscheinende „Vorstrafe“ mehr gegeben ist. Der Verurteilung lag folgender Sachverhalt zugrunde:[310] |
Der Student im praktischen Jahr hatte einem Säugling, der an akuter myeloischer Leukämie erkrankt war, fehlerhaft ein für die orale Gabe bestimmtes Antibiotikum intravenös injiziert. Das 9 1/2 Monate alte Kind starb infolgedessen an einem anaphylaktischen Schock. Kurz vor der Medikation hatte sich der PJ‚ler mit einer Krankenschwester über einen Tal-Berg-Spiegel für das Antibiotikum Refobacin unterhalten. Nachfolgend war er bei dem Säugling mit einer Blutabnahme beschäftigt, als die Krankenschwester eine Spritze in das Zimmer brachte. Der PJ‚ler hielt den milchigen Inhalt der unbeschrifteten Spritze für das Antibiotikum Refobacin, weshalb er es in einen zentralvenösen Zugang injizierte. Tatsächlich enthielt die Spritze „Cotrim-K-Saft“, der zur oralen Gabe bestimmt war. Der angeklagte Student meinte, er habe einen „Gesamtauftrag“ zum anstehend erforderlichen Behandlungsagieren, und die Schwester habe geäußert: „Hier ist das Medikament“. Demgegenüber bekundete die Krankenschwester als Zeugin, der PJ‚ler habe lediglich den Auftrag zur Blutentnahme gehabt, und bei ihrem Hinzutreten habe sie hinsichtlich der mitgebrachten Spritze geäußert: „Hier ist das orale Antibiotikum“.
Mithin wurde zur Verurteilung von einem „eigenmächtigen“ Handeln des PJ‚lers ausgegangen. Allerdings warf der in der Berufungsverhandlung zu Tage getretene Sachverhalt weitergehende Problemstellungen auf, weshalb die Staatsanwaltschaft Bielefeld nunmehr ein Ermittlungsverfahren gegen Organisationsverantwortliche[311] der Klinik eingeleitet hat. Eventuell ermangelte es gehöriger organisatorischer Maßgaben, damit die Medikamentenverwechslung von vornherein hätte unterbunden werden können.
cc) Originär ärztliche Tätigkeiten (Arztvorbehalt/Delegationsausschluss)
311
Ist für die Vornahme einer bestimmten Maßnahme im Rahmen der Krankenbehandlung ärztliches Wissen und ärztliche Erfahrung erforderlich, gehört diese Tätigkeit zum ausschließlichen Aufgaben- und Verantwortungsbereich des Arztes und darf nicht delegiert werden. Welche Leistungen aber im Einzelnen allein dem Arzt vorbehalten sind, lässt sich aus gesetzlichen Regelungen nicht entnehmen. Der in diesem Zusammenhang immer wieder vorgenommene Rückgriff auf § 1 Abs. 2 HeilpraktikerG aus dem Jahre 1939 führt nicht weiter, da dort die Frage der Delegierbarkeit ärztlicher Maßnahmen auf nichtärztliches Hilfspersonal überhaupt nicht angesprochen wird. In Ermangelung einer speziellen gesetzlichen Festlegung des „ureigenen“, „genuinen“ ärztlichen Aufgabenbereichs ist daher auf allgemeine Kriterien zurückzugreifen, die sich in der Bundesärzteordnung, dem Haftungs-, Dienstvertrags- und Liquidationsrecht finden. Unter Hintanstellung von Einzelheiten[312] ist dazu zusammenfassend festzustellen, dass die materiellen Grenzen der Delegierbarkeit ärztlicher Aufgaben von der medizinischen Wissenschaft und ärztlichen Praxis zu ziehen und im Zuge der dynamischen Entwicklung der Medizin, ihrer Spezialisierung und Subspezialisierung Veränderungen unterworfen sind. Die Rechtsordnung beschränkt sich auf eine Grenzkontrolle, bei der sie dem Schutz- und Sicherheitsaspekt zugunsten des Patienten absolute Priorität einräumt.
Ausnahmslos dem Arzt vorbehalten bleiben deshalb sämtliche diagnostischen und therapeutischen Entscheidungen und darüber hinaus auch die zu ihrer Ausführung erforderlichen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen, die wegen ihrer technischen Schwierigkeit oder ihres hohen Risikos (z.B. Narkose[313]) theoretisches ärztliches Wissen und praktische ärztliche Erfahrung erfordern. Unter dem Arztvorbehalt steht ferner die Aufklärung im Hinblick auf die zentrale Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten. Soweit den nichtärztlichen medizinischen Assistenzberufen Aufgaben übertragen werden dürfen, ist ärztliche Aufsicht und eine entsprechende Mitarbeiterqualifikation erforderlich.[314] Je gefährlicher oder bedeutender eine Maßnahme im Behandlungsgeschehen ist, umso „arztnäher“ muss sie vorgenommen werden. Insoweit gibt es mehrere konzentrische Kreise. Den ersten bildet der ausschließlich dem Arzt vorbehaltene Tätigkeitsbereich, den zweiten der Bereich unmittelbarer ärztlicher Aufsicht über die Durchführung der übertragenen Maßnahmen, den dritten die Arztaufsicht im Sinne einer ständigen und schnellen, keine zusätzliche Gefährdung auslösenden Erreichbarkeit des Arztes. In diesem Sinne abgestufter Gefährdung nimmt die ärztliche Überwachungsdichte der delegierten Tätigkeiten immer weiter ab, bis schließlich der Bereich erreicht ist, in dem die nichtärztlichen Mitarbeiter ihrer Ausbildung entsprechende originär eigene Aufgaben (z.B. die Grundpflege)[315] im Rahmen einer generellen ärztlichen Organisationsverantwortung mit Aufsichts- und Weisungspflichten wahrnehmen.[316]
Zwei konkrete Beispiele für den Delegationsausschluss seien hier genannt:
312
Als „originär ärztliche Aufgabe“[317] gilt nach allgemeiner Ansicht die Blutübertragung und ist deshalb – im Gegensatz zur Blutentnahme – nicht auf das Pflegepersonal delegierbar. Denn bei der Bluttransfusion bestehen außergewöhnlich große Risiken. Daher muss stets vor ihrem Beginn der Identitätstest (Bed-side-Test, Kreuzprobe) vorgenommen werden, um sicherzustellen, dass das Spenderblut mit dem Empfängerblut verträglich ist[318]. Verantwortlich für die ordnungsgemäße Organisation und Durchführung der Bluttransfusion ist der Chefarzt im Rahmen seiner Gesamtverantwortung für die ärztliche Versorgung der Patienten seiner Abteilung[319].
313
Ein zweites Beispiel: Da sämtliche Anästhesieverfahren einschließlich der Lokalanästhesie als risikoreiche Eingriffe in die körperliche Integrität des Patienten ausschließlich dem Arzt vorbehalten sind, darf der Medizinalassistent als „Noch-nicht-Arzt“ eine Narkose nur zu Lernzwecken unter Anleitung, Aufsicht und Verantwortung eines Facharztes vornehmen. Es wäre deshalb ein Delegationsverschulden, wenn der Leitende Arzt ihm die eigenverantwortliche und selbstständige Durchführung des Narkoseverfahrens übertrüge.
314
Das Delegationsverbot ärztlicher Aufgaben auf nichtärztliche Mitarbeiter gilt im Bereich des Arztvorbehalts selbst dann, wenn es sich um fachlich gründlich ausgebildete und persönlich zuverlässige, eventuell (z.B.) langjährig auf der betreffenden Anästhesiestation tätige Pflegekräfte handelt. Diese können allerdings zu Hilfstätigkeiten herangezogen werden, zum Beispiel, um den Patienten und das Narkose- bzw. Beatmungsgerät zu überwachen. Stets und unabdingbar muss hier jedoch gewährleistet sein, dass der zuständige Anästhesist im Falle der geringsten Änderung der Situation sofort eingreifen kann.
315
Insbesondere stellt sich das Problem der sog. Parallelnarkose:
Unter dem Gesichtspunkt der Aufgabendelegation erlangte nach den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zwischenzeitlich die Frage der Zulässigkeit mehrerer gleichzeitig durchzuführender Narkoseverfahren nochmals[320] akute Bedeutung. Angesichts knapper finanzieller Ressourcen oder gar defizitärer