Arztstrafrecht in der Praxis. Klaus Ulsenheimer
Narkosen gleichzeitig von einem Anästhesisten überwachen zu lassen. Insbesondere ein deutscher Klinikkonzern verfolgte explizit das Konzept, „dass Pflegekräfte, die im Rahmen einer einjährigen konzerninternen, Theorie- und Praxismodule umfassenden Schulungsmaßnahme zum MAfA (d.h. „Medizinischer Assistent für Anästhesiologie“) weitergebildet wurden, in beträchtlichem Umfang eigenständig anästhesiologische Aufgaben bei Operationen wahrnehmen sollten“.[321] Allerdings wurde dieses Konzept aufgrund heftiger Kritik „weitgehend entschärft“[322] bzw. aufgegeben. Seinerzeit realisierte sich in einem Klinikum dieses Krankenhauskonzerns eine Komplikation im Zusammenhang mit operativer anästhesiologischer Behandlung, welche als „Erfurter Narkosezwischenfall“ bekannt wurde.[323] „Ein ‚absehbar risikoloser Patient‚ war der 19-jährige Abiturient Patrick H., der sich 2006 (im betroffenen Klinikum) einer Operation am rechten Ohr unterzog. Während des Eingriffs (Tympanoplastik Typ III c) kam es aufgrund von Anästhesieproblemen zum Herzstillstand. Der Patient konnte erst nach 15 Minuten reanimiert werden, lag dann drei Monate im Koma und ist nun schwerstbehindert“.[324] Nach Presseberichten erging gegen den zuständigen Anästhesie-Oberarzt ein Strafbefehl wegen fahrlässiger Körperverletzung als Ergebnis eines Ermittlungsverfahrens (90 Tagessätze) bei „Verwarnung mit Strafvorbehalt“ gemäß § 59 StGB. Allerdings ging der dem Strafbefehl zugrunde liegende Vorwurf angeblich dahin, dass dem Patienten bei der Operation Medikamente in einer Kombination verabreicht wurden, die den Herzstillstand verursacht haben sollen.
Wegen des potenziell hohen Risikos, das jede Narkose mit sich bringt, wegen der Lebensbedrohlichkeit narkosebedingter Zwischenfälle mit möglicherweise schweren und schwersten Folgen für den Patienten sowie insbesondere auch wegen der Kurzfristigkeit, die für das ärztliche Eingreifen zwischen Erkennen und Beherrschung der Komplikation zur Verfügung steht, halten wir im Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung[325] und der anästhesiologischen Wissenschaft[326] die sog. „Schwestern“- oder auch „Parallelnarkose“ für nicht zulässig. Der zur Diensteinteilung berufene Chef- oder Oberarzt, der dennoch eine solche Organisationsform einführt oder toleriert, setzt sich daher dem Vorwurf des Organisationsverschuldens, der zwei oder mehrere Operationstische überwachende Anästhesist, an denen von Berufsanfängern oder Pflegekräften geleitete Narkosen stattfinden, dem Vorwurf eines Übernahmeverschuldens aus. Durchführung und Überwachung einer Narkose sind grundsätzlich einem kompetenten Anästhesisten vorbehalten, so dass es sich bei einer „Parallelnarkose“ immer nur um eine Notlösung im Einzelfall handeln kann, für die von vorneherein überall kein Raum ist, wo die Voruntersuchung auf ein erhöhtes Narkoserisiko hindeutet („Risikopatient“).
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Aber auch in den verbleibenden Fällen ist die rechtliche Zulässigkeit von Parallelnarkosen eng begrenzt und an drei kumulativ erforderliche Voraussetzungen geknüpft[327]:
1. | Dem narkoseführenden Arzt müssen ausgebildete, in der Narkoseüberwachung erfahrene Hilfskräfte zur Verfügung stehen, um die ständige Kontrolle des Patienten und die sofortige Information des Arztes bei Anzeichen von Komplikationen zu gewährleisten. Die Anästhesiepflegekraft darf nicht zugleich mit anderen Aufgaben betraut werden und im Rahmen ihrer Überwachungsfunktion keine Handlungs- und Entscheidungskompetenz besitzen. |
2. | Es dürfen höchstens zwei Narkosen gleichzeitig nebeneinander ausgeführt werden. |
3. | Die Operationstische, an denen die beiden Narkosen durchgeführt werden, müssen benachbart sein oder zumindest in Räumen mit unmittelbarer Verbindung stehen (Blick- und/oder Rufkontakt). |
Soweit das Delegationsverbot reicht, greift selbstverständlich die Berufung auf den Vertrauensgrundsatz nicht durch, vielmehr liegt ein Behandlungsfehler vor, „wenn einer nach ihrem Ausbildungs- und Erfahrungsstand zur Vornahme bestimmter Eingriffe in die körperliche Integrität eines Patienten nicht befugten Person solche Eingriffe dennoch übertragen und von ihr ausgeführt werden“[328].
dd) Originär eigene Aufgaben des Pflegedienstes
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Ebenso wie es ausschließlich ärztliche Aufgaben gibt, sind originär eigene Aufgaben der nichtärztlichen Mitarbeiter (des Pflegedienstes) zu konstatieren. Eine exakte gesetzliche Beschreibung des beruflichen Tätigkeitsfeldes für das Krankenpflegepersonal gibt es leider nicht, doch enthält das Krankenpflegegesetz vom 16.7.2003 (BGBl. I, 1442)[329] eine verbindliche, wenngleich nicht abschließende Beschreibung des krankenpflegerischen Berufsbildes. Danach gehört zum Aufgabenbereich des Krankenpflegepersonals die Grund- und Behandlungspflege, auch „allgemeine“ und „spezielle“ Pflege genannt, sowie Vorbereitung, Assistenz und Nachbereitung bei Maßnahmen der Diagnostik und Therapie. Die Grundpflege umfasst z.B. das Betten und Lagern, präventive Maßnahmen wie die Dekubitusprophylaxe, Thromboseprophylaxe und Ähnliches, die Körperpflege, Ernährung, Überwachung von Puls und Temperatur, Verabfolgung der Medikamente, Tabletten, Zäpfchen usw. Die Anordnungskompetenz liegt hierfür aber unstreitig beim Arzt.[330] Die Grundpflege umfasst ferner die menschlich-psychologische Betreuung des Patienten und die damit verbundene, außerordentlich wichtige „allgemeine Krankenbeobachtung, d.h. das Erfassen und Erkennen von Veränderungen im Gesamtzustand des Patienten und im Krankheitsverlauf“, sowie die Pflicht, bei Zustandsveränderungen den Arzt zu rufen.[331]
Der Auffassung, bei der Grundpflege handle es sich um „originäre, nicht aus dem ärztlichen Tätigkeitsbereich abgeleitete Aufgaben[332], und daher sei in diesem Bereich das Pflegepersonal „ausschließlich verantwortlich“[333], ist zu widersprechen. Auch bei der allgemeinen Pflege kann es nämlich zu Problemen und gar Zwischenfällen kommen, die ein ärztliches Eingreifen notwendig machen. Solches Eingreifen mag aus Hinzuziehung seitens des Pflegepersonals resultieren, weil von dort aus zutreffend – und d.h. auch: sorgfaltspflichtgerecht – erkannt wird, dass die Grenze einer Aufgabenerledigung in eigener Kompetenz erreicht ist. Allerdings obliegt dem Arzt auch die Sorgfaltspflicht, nötigenfalls von sich aus in den Pflegeprozess einzugreifen, was aus der Kontroll- bzw. Überwachungsverpflichtung im Rahmen der Aufgabendelegation resultiert.[334] Und genau dergestalt erhellt rechtssystematisch, dass es vorbehaltlich expliziter normativer Maßgaben bei der Klinikbehandlung keinen „arztfreien“ Bereich geben kann.[335] Dem entspricht, dass die Behandlung von Krankheitszuständen kraft ausdrücklicher Anordnung des Gesetzgebers (§ 2 BÄO) ausschließlich approbierten Ärzten vorbehalten ist, so dass auch im Bereich der allgemeinen Pflege die Anordnungskompetenz des Chefarztes und seiner ärztlichen Mitarbeiter gilt. Ein gänzlich arztfreier Bereich im Rahmen der Heilbehandlung ist aus Rechtsgründen abzulehnen.[336] Ein pflegerischer „Freiraum“ ohne ärztliche Weisungsrechte und Überwachungsverantwortung widerspricht dem Gesetz und den vertraglichen Beziehungen zwischen Chefarzt und Krankenhaus auf der einen sowie Chefarzt und Privatpatient auf der anderen Seite. Auch der Bereich der Grundpflege steht unter der ärztlichen Gesamtverantwortung, die sich hier aber auf die Rechtsaufsicht beschränkt, während die Fachaufsicht der Pflegedienst- bzw. der Stationsleitung obliegt.[337]
Unstreitig gilt die ärztliche Aufsichts- und Weisungspflicht auf dem gesamten Feld der speziellen Pflege. Da die Pflegekräfte vom Krankenhaus eingestellt werden, entfällt in der Regel ein Auswahlverschulden des Leitenden Arztes einer Abteilung und ebenso auch eine Aus- und Fortbildungspflicht. Dass der Vertrauensgrundsatz auch im Rahmen der originär eigenen Aufgaben des Pflegedienstes seine volle, haftungsbegrenzende Wirkung entfaltet, bedarf keiner besonderen Hervorhebung. Zur strafrechtlichen Problematik bei Kompetenzüberschreitungen nichtärztlicher medizinischer Mitarbeiter in Notsituationen siehe das gleichnamige Buch von Boll.[338]
Anmerkungen