Arztstrafrecht in der Praxis. Klaus Ulsenheimer
Die gleiche Beurteilung gilt, wenn der noch in der Ausbildung befindliche Arzt hätte erkennen müssen, dass er in Bezug auf Diagnose und Therapie überfordert ist“ [258] .
Dem in den Abteilungen anwesenden Personal müssen daher sog. „Oberarztindikationen“ (Befundsituationen, bei denen sofortig der Oberarzt zu verständigen ist) genau vorgegeben werden.
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Welche Risiken mit dem Einsatz eines Berufsanfängers im geburtshilflichen Bereitschaftsdienst und in der Anästhesie verbunden sein können, zeigen die nachstehenden Beispiele sehr anschaulich:
1. | Bei der plötzlich im Rahmen einer Geburt eintretenden Komplikation (Schulterdystokie) ging die junge Ärztin (damals AiP) fehlerhaft vor, so dass das Kind einen erheblichen Schaden erlitt. Das Gericht ließ offen, ob sich stets ein erfahrener Arzt in Rufbereitschaft befinden muss, wenn ein Berufsanfänger im Kreißsaal ohne unmittelbare Beaufsichtigung tätig wird. Aber selbst wenn man insoweit „großzügig“ sei, dürfte einer in Ausbildung befindlichen Ärztin die eigenverantwortliche Leitung einer Geburt nur übertragen werden, „wenn sie darüber informiert ist, auf welche Weise im Falle von Komplikationen vorzugehen ist. An einer solchen Unterrichtung fehlte es“.[259] |
2. | In einem vom OLG Hamm entschiedenen Fall[260] ging es um dieselbe Sachkonstellation bei einer Saugglockenentbindung. Da sich bereits vor Aufnahme der Schwangeren im Krankenhaus pathologische bzw. präpathologische Veränderungen in den CTG-Aufzeichnungen ergeben hatten, war es nach Ansicht des Gerichts nicht vertretbar, die Betreuung der Geburt dieser Risikopatientin über Stunden hin einem noch unerfahrenen Arzt und einer Hebamme zu überlassen, „sofern nicht mindestens ein Facharzt im Krankenhaus anwesend war und sich von der Entwicklung des Geburtsgeschehens jederzeit und in kürzester Frist überzeugen konnte“. Die verzögerte Benachrichtigung des Oberarztes wurde als grober Behandlungsfehler gewertet und dem schwer geschädigten Kind ein Schmerzensgeld von 500.000 € zugesprochen. |
Beide Zivilrechtsfälle machen deutlich, dass es „nicht auf die formale Stellung“ des Arztes oder der Ärztin (im Praktikum bzw. in Weiterbildung), „sondern auf ihren konkreten Kenntnisstand und vor allem“ auf ihre gehörige Einarbeitung und Unterweisung in typischen Problemlagen ankommt, wozu auch Notfälle und Komplikationen gehören.[261]
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Weitere Beispiele:
1. | Der Angeklagte war als Arzt im Praktikum in der Praxis der mitangeklagten Anästhesistin unter deren Aufsicht und Leitung tätig. Nach einer komplikationslos verlaufenen Nasenoperation kam die Patientin in den Aufwachraum. Sie war ansprechbar und hatte einen normalen Puls und Blutdruck. Da die Patientin in der Folgezeit unruhig wurde und über starke Schmerzen klagte, nahm der AiP eine Einwegspritze sowie eine Glasampulle mit 50 mg Dolantin und injizierte das Schmerzmittel der Patientin. Anschließend verließ er den Aufwachraum und bat die medizinisch nicht ausgebildete Sprechstundenhilfe, alle 5 Minuten nach der Patientin zu sehen. Technische Überwachungsinstrumente waren nicht angeschlossen. Als die Sprechstundenhilfe zum ersten Mal nach der Patientin schaute, sah sie, dass diese nicht mehr atmete, und teilte dies umgehend der Anästhesistin mit. Die sofort eingeleitete Reanimation blieb jedoch aufgrund der schon verstrichenen Zeit erfolglos. Das Schöffengericht verurteilte den AiP, da er trotz fehlender Befugnis zur eigenverantwortlichen Anordnung und Durchführung von Injektionen keine Rücksprache bei seiner Vorgesetzten genommen, die Dosis zu hoch gewählt und für keine ordnungsgemäße Überwachung der Patientin gesorgt habe. Die Anästhesistin dagegen wurde freigesprochen, da das Gericht ein Organisationsverschulden verneinte, nachdem zu ihren Gunsten davon auszugehen war, dass sie von der Dolantin-Gabe durch den AiP nichts wusste.[262] Die Berufung der Staatsanwaltschaft blieb ohne Erfolg. |
2. | Die angeklagte Anästhesistin erteilte der ihr als Ausbildungsassistentin zugewiesenen Ärztin im Praktikum den Auftrag, die Narkose bei der Operation einer Gebärmuttergeschwulst zu beginnen. Beide wussten, dass der OP-Saal mit älteren, weniger zuverlässigen medizinischen Apparaten ausgestattet war, es sich um eine Risikopatientin handelte und die junge Ärztin über keine ausreichende Berufspraxis verfügte. Obwohl sie deshalb die Narkose nicht eigenverantwortlich, erst recht nicht unter den genannten ungünstigen und risikoreichen Bedingungen durchführen durfte, nahm sie den ihr erteilten Auftrag wahr. Dabei erkannte sie nicht, dass sich zwischen Kompressor und Kreislaufteil des Anästhesiegerätes eine Schlauchverbindung gelöst hatte und dadurch die Sauerstoffzufuhr unterbrochen war. Außerdem war zu diesem Zeitpunkt auch das Kabel zur Monitorüberwachung defekt. Als die angeklagte Anästhesistin in den OP-Saal kam und die Patientin zyanotisch sowie bereits mit lichtstarren Pupillen vorfand, erkannte sie den Defekt sofort, doch konnten die umgehend eingeleiteten Hilfsmaßnahmen nicht verhindern, dass die Patientin durch die etwa 5-minütige Nichtversorgung mit Sauerstoff eine schwerwiegende Hirnschädigung erlitten hatte. Die Anästhesistin wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, da sie die Durchführung der Narkose nicht eigenverantwortlich auf die Berufsanfängerin hätte übertragen dürfen. Letztere erhielt wegen ihres Übernahmeverschuldens eine Verwarnung unter Strafvorbehalt.[263] |
(g) Leitender Arzt/Oberarzt – Facharzt
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Einem Facharzt, dessen adäquate medizinische Qualifikation und persönliche Zuverlässigkeit der Leitende Arzt oder Oberarzt kennt, darf er alle zum Fachgebiet gehörenden Aufgaben zur selbstständigen Erledigung anvertrauen, ohne diese im Einzelnen kontrollieren zu müssen. Der für die Auswahl (Einstellung) und den Einsatz eines Facharztes verantwortliche Chefarzt darf sich allerdings nicht nur auf das Facharztzeugnis verlassen, sondern muss sich im Einzelnen von den individuellen Fähigkeiten und konkreten Erfahrungen seines Mitarbeiters vor dessen erstem Tätigwerden überzeugen.[264]
(4) Der Vertrauensgrundsatz bei der Teamarbeit zwischen Arzt und nichtärztlichem Personal
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Im Verhältnis zwischen Chefarzt (Arzt) und seinen nichtärztlichen Mitarbeitern gelten im Prinzip dieselben Grundsätze. Typisch für diese Unterform der vertikalen Arbeitsteilung ist, „dass sie sich im Bereich der fachlichen Weisungsrechte und Weisungspflichten vollzieht“[265]. Deshalb muss der Arzt, der sich im Rahmen der Krankenbehandlung der Hilfe anderer Personen bedient, gegen „die bei der Arbeitsteilung auftretenden besonderen Gefahrenquellen“[266] – Qualifikationsmängel, Informationslücken, Missverständnisse, Eigenmächtigkeiten – Vorsorge treffen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass er „stets auf Sorgfaltsmängel gefasst“ sein müsste, „die buchstäblich überall und nirgends vorkommen können“[267], vielmehr darf er sich, wenn nicht besondere Umstände entgegenstehen, auf das sorgfaltspflichtgemäße Verhalten seiner Hilfskräfte im Hinblick auf deren eigene unmittelbare „Primärverantwortlichkeit“ verlassen.
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Dies gilt insbesondere für Mitarbeiter, die ihre Kenntnisse und Erfahrungen durch Prüfungszeugnisse nachgewiesen haben oder unter staatlicher Aufsicht stehen. Hier darf der Arzt „im Allgemeinen davon ausgehen, dass andere geprüfte Medizinalpersonen“ (z.B. Pflegekräfte, medizinisch-technische Assistentinnen) „diejenigen Kenntnisse besitzen“, die zum Prüfungsstoff gehören[268], oder in ihrer Berufstätigkeit von staatlichen Stellen überwacht werden wie z.B. die Hebamme[269]. So richtig es ist, dass sich der Arzt nur „zunächst auf Zeugnisse und Prüfungen verlassen“ darf, „sich dann