Arztstrafrecht in der Praxis. Klaus Ulsenheimer
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Einleitung Zur praktischen Bedeutung des Arzt- und Medizinstrafrechts
Einleitung Zur praktischen Bedeutung des Arzt- und Medizinstrafrechts
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Unter der alarmierenden Überschrift „Ein gefährlicher Beruf“ kritisierte im Jahre 1911 der Strafrechtswissenschaftler Kohler mit scharfen Worten die „Weltfremdheit der Richter“[1] des Reichsgerichts, die in einem Entbindungsfall die Verurteilung des Arztes und der Hebamme durch das Landgericht Breslau wegen fahrlässiger Tötung bestätigt hatten. Mit Nachdruck wies der damalige Oberreichsanwalt Ebermayer[2] diese Kritik als haltlos zurück, denn „bekanntlich“ sei „nicht leicht eine Frage zweifelhafter als die der strafbaren Fahrlässigkeit, in keinem Falle“ bestehe eine „größere Gefahr, dass derselbe Tatbestand von verschiedenen Gerichten verschieden beurteilt wird“. Hätten „zwölf welterfahrene Ärzte“ zu Gericht gesessen, „so hätten wahrscheinlich sechs von ihnen das Verfahren ihres Kollegen gebilligt, sechs missbilligt“.[3]
An dieser Problematik hat sich bis heute nichts Grundlegendes geändert. Doch waren Strafverfahren gegen Ärzte damals ausgesprochene „Raritäten“, die keinen „Anlass zur Beunruhigung der Ärzte im Allgemeinen“[4] gaben. 100 Jahre später jedoch zeigt eine kritische empirische Bestandsaufnahme, dass die von Kohler seinerzeit befürchtete „Gefährdung des ärztlichen Berufs“[5] durch das Strafrecht in unseren Tagen nicht als bloße Übertreibung, einseitige Panik- oder Stimmungsmache abgetan werden darf, sondern Realität geworden ist. Exaktes statistisches Material liegt leider nicht vor, da in den einzelnen Bundesländern die einschlägigen Ermittlungsverfahren und Strafurteile nicht zentral erfasst werden. Alle Einzelmitteilungen und Publikationen bestätigen jedoch die von einem Generalstaatsanwalt schon 1985 getroffene Feststellung, die Ermittlungsbehörden sähen „sich seit einigen Jahren in steigendem Maße mit Verfahren befasst, in denen Ärzte strafbarer Handlungen bezichtigt werden, die im Zusammenhang stehen mit der Ausübung ihres Berufs“.[6] Um nur zwei konkrete Zahlenangaben zu nennen: Die Ermittlungsverfahren wegen ärztlicher Behandlungsfehler bei der Staatsanwaltschaft Köln nahmen von 137 im Jahre 1998 auf 341 Verfahren im Jahr 2001 zu.[7] Dieselbe Entwicklung zeigt sich auch an den zunehmenden Obduktionen, die infolge von Behandlungsfehlervorwürfen gegen Krankenhausärzte, niedergelassene Ärzte, Notdienstärzte und Notärzte durchgeführt werden. Ihre Zahl hat sich z.B. im Zeitraum zwischen 1990 und 2000 auf über 4.000 verdoppelt.[8]
Ein gewisser Rückschluss ist auch aus der Zahl zivilrechtlicher Klagen gegen Ärzte bzw. Krankenhäuser, den Anträgen bei den ärztlichen Schlichtungsstellen und Gutachterkommissionen sowie den Feststellungen der Krankenkassen möglich: Laut Statistischem Bundesamt wurden im Jahre 2018 in Arzthaftungssachen bei Amts- und Landgerichten bereits insgesamt 10.853 Zivilprozesse erledigt, nach einer Veröffentlichung der Bundesärztekammer 10.839 Schlichtungsverfahren im Jahre 2018 eingeleitet[9] und nach Angaben des MDK im gleichen Jahr bei Überprüfung von 14.133 Behandlungsvorwürfen 19,8 % als berechtigt anerkannt.[10] Wenn nur in 10 % bis 20 % dieser Fälle staatsanwaltschaftliche Ermittlungen durchgeführt wurden,[11] so errechnet sich daraus eine Zahl von deutlich über 2.000 staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren wegen ärztlicher Fehlleistungen im Diagnose- und Therapiebereich. Bedenkt man, dass in der Bundesrepublik 115 Landgerichte und Staatsanwaltschaften tätig sind, dann dürfte die von Ulsenheimer auf Grund dieser und anderer Detailangaben bzw. Hochrechnungen geschätzte Zahl von über 3.000[12] sog. Kunstfehlerverfahren nicht zu hoch, sondern eher zu niedrig gegriffen sein.[13] Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass die vermehrt diskutierte Verantwortlichkeit der sog. patientenfernen Entscheider zu einer Ausweitung der von der Verfolgung betroffenen Personen führen dürfte.[14]
Es kommt hinzu, dass neben den allgemeinen, an jedermann gerichteten Delikten der §§ 222, 229 StGB eine ganze Reihe weiterer, meist allerdings Vorsatz fordernde Straf- und Ordnungswidrigkeitentatbestände existieren, die (auch) speziell für das ärztliche Handeln im Kontext von Diagnose und Therapie einschlägig sind. Beispielhaft genannt sein sollen hier lediglich der Schwangerschaftsabbruch (§§ 218 ff. StGB), der zeitweise drohende Tatbestand der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB a.F.), die Verletzung der Schweigepflicht (§ 203 StGB), das Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse (§ 278 StGB), strafbare Verstöße gegen das AMG (§§ 95, 96), BtMG (§ 29), ESchG (§§ 1 ff.), GenDG (§§ 25 f.), GenTG (§§ 38 f.), HWG (§ 14), IfSG (§ 74), MPG (§ 41), StZG (§ 13), TFG (§ 31), TPG (§§ 18, 19) und UWG (§§ 16 ff.). In der Justizpraxis kommt diesen Delikten zwar regelmäßig eine vergleichsweise geringe Bedeutung zu. Sie unterstreichen jedoch, dass die heilberufliche Tätigkeit insbesondere des Arztes in diverser Hinsicht dem Strafrecht untersteht.
Schließlich ist zu betonen, dass dem Arztstrafrecht mit dem heute fast omnipräsenten Medizinwirtschaftsstrafrecht eine zweite Hauptsäule neben dem klassischen, auf die Behandlung und ihre Umstände bezogenen Sektor erwachsen ist. Bereits seit einigen Jahrzehnten haben Strafverfahren gegen Ärzte mit vermögensrechtlichem Einschlag, also wegen Betrugs (§ 263 StGB), Untreue (§ 266 StGB) und der Korruptionsdelikte (zunächst die §§ 331 ff. StGB, |