Arztstrafrecht in der Praxis. Klaus Ulsenheimer

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Ärzte als Beschuldigte weit hinaus. Sie betreffen insbesondere andere Heilberufe. Abrechnungsbetrug und Korruptionsdelikte etwa in Verbindung mit Leistungen der Pharmaindustrie sind immer häufiger Gegenstand staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen, ihre Zahl geht jährlich in die Tausende.[15] Unlängst hat diese Entwicklung mit der Schaffung der Spezialtatbestände der §§ 299a, 299b StGB, die sich explizit auf die Zurückdrängung der Korruption im Gesundheitswesen richten, ihren Höhepunkt erreicht. Die Einrichtung entsprechender Schwerpunktstaatsanwaltschaften verdeutlicht, dass es sich hierbei schon vor dem Hintergrund des im Gesundheitswesen stets vorhandenen Kostendrucks nicht nur um eine vorübergehende Modeerscheinung handelt.[16] Zu rechnen ist eher mit der weiteren Ausdehnung, was Debatten um einen ergänzenden speziellen Betrugstatbestand und die jüngste Fruchtbarmachung des § 266a StGB (zu ihr Rn. 1730 ff.) für das Gesundheitswesen nur nochmals unterstreichen. Das verfügbare Zahlenmaterial im Zivil- und Strafrecht und die jüngere Gesetzgebung zeigen eine eindeutige Tendenz: eine „Verrechtlichung“ der Medizin, die Ärzte als „Diktat juristischer Zwänge“ und „Kriminalisierung“ ihrer Tätigkeit nicht ohne Gründe beklagen und erheblich beunruhigt. Das Risiko, von einer Strafanzeige und einem eingeleiteten Strafverfahren mit erheblichen Konsequenzen betroffen zu sein, hängt aus der Perspektive der Betroffenen heute wie ein Damoklesschwert als ständige Bedrohung über der ärztlichen Heilbehandlung bzw. der Tätigkeit im Gesundheitswesen.[17] Sogar von Seiten der Staatsanwaltschaft wird zum Teil von einer „Inflation des Strafrechts“[18] gesprochen und in der Strafrechtswissenschaft nicht selten vor einem „Sanktionierungs- und Verfolgungseifer“[19] gewarnt. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass Verurteilungen von Ärzten wegen eines berufsspezifischen Fehlverhaltens insgesamt nur bei etwa 5 % der eingeleiteten Ermittlungsverfahren zu berichten und damit offenbar äußerst selten sind.[20] Die Einstellungsquote mangels hinreichenden Tatverdachts liegt mit einem Wert von bis zu über 80 % ebenso wie die Quote der Einstellung gegen Zahlung einer Geldauflage mit bis zu 15 % weit über dem bundesdeutschen Durchschnitt.[21] Zu berücksichtigen ist ferner, dass die genannten Zahlen vor dem Hintergrund von etwa 385.000 praktizierenden Ärzten und jährlich über 19 Mio. stationärer Eingriffe sowie 700 Mio. Behandlungsfällen im ambulanten Bereich sich letztlich „verschwindend gering“ ausnehmen.[22] So erfreulich gerade die letzte Bilanz für die Ärztinnen und Ärzte sicherlich ist, relativieren die genannten Zahlen die bestehenden Befürchtungen doch nur sehr graduell. Der Blick darf sich im Strafrecht nicht nur auf die Verurteilung richten: a) Schon ein Ermittlungsverfahren ist häufig existenzgefährdend, manchmal sogar existenzvernichtend, jedenfalls aber oft Ursache tiefgreifender persönlicher Belastungen und weitreichender Änderungen im privaten Lebensbereich.[23] Ärzte, die sich um Assistenzarzt-, Oberarzt- oder Chefarztpositionen bewerben, müssen in Fragebögen regelmäßig angeben, ob gegen sie ein Strafverfahren anhängig ist. Die Antwort „ja“ bedeutet praktisch, trotz oft guter Qualifikation und des Bewerbermangels, dass der Betreffende nicht in die engere Wahl kommt und damit – jedenfalls temporär – den Verlust jeglicher Chancen auf beruflichen Erfolg. Verschweigt der Arzt aber wahrheitswidrig das anhängige Strafverfahren, riskiert er die fristlose Kündigung.[24] Suspendierungen vom Dienst, Arbeitsplatzverlust durch Kündigung während der Probezeit oder außerordentlich nach einem Schuldspruch, manchmal sogar fristlos (!) bei Vorliegen eines bloßen „Kunstfehler“-Verdachts – vor Verurteilung durch ein Gericht oder Anklageerhebung (!) – sind in der Praxis keine Seltenheit.[25] Sie machen deutlich, zu welch schwerwiegenden Konsequenzen die Einleitung und Durchführung eines Ermittlungsverfahrens für den Betroffenen nur allzu oft führen. Vor allem die älteren, also regelmäßig besonders erfahrenen Ärztinnen und Ärzte, die nie etwas mit Gericht oder Staatsanwaltschaft zu tun hatten, stehen fassungslos der Durchsuchung von Praxisräumen, der Beschlagnahme von Krankenblattunterlagen und sonstigen Zwangsmaßnahmen gegenüber und vermögen sich in der – völlig ungewohnten und als ehrenrührig empfundenen – Rolle des Beschuldigten nicht zurechtzufinden. b) Außenstehende Dritte haben häufig keine bzw. nur eine unzureichende Vorstellung von den psychischen und physischen Belastungen, den Unannehmlichkeiten und Misslichkeiten eines Ermittlungsverfahrens, insbesondere wenn es zu einer Anklage kommt. Richtern und Staatsanwälten sind diese zwar grundsätzlich bewusst. Sie werden aber doch meist erheblich unterschätzt bzw. verdrängt.[26] Im Gegensatz zu Zivilprozessen um Schadensersatz und Schmerzensgeld, in denen ebenfalls ärztliche Pflichtverletzungen öffentlich erörtert werden, üben Strafverfahren und – häufig mehrtägige – Hauptverhandlungen ganz offensichtlich eine besondere, geradezu magische Anziehungskraft auf Laien aus.[27] Deshalb wird schon der Inhalt der Anklageschrift meist publiziert. Er entfaltet dann seine stigmatisierende Wirkung, oftmals mit Namensnennung und Vorverurteilung des Arztes. Denn allzu rasch und leicht zieht der Laie aus einem Zwischenfall oder einer Komplikation den Schluss auf ein Fehlverhalten oder Verschulden des Arztes (sog. Rückschaufehler, dazu näher Rn. 69 und 89), weil er die Komplexität des Sachverhalts, die naturwissenschaftlichen Zusammenhänge und die eingriffsspezifischen Risiken nicht kennt bzw. nicht genügend berücksichtigt.[28] Die zentrale Unterscheidung zwischen Unrecht und Unglück bleibt dadurch auf der Strecke. Während vor dem Zivilgericht kaum je ein Zuhörer anwesend ist, finden strafgerichtliche Hauptverhandlungen oft in breitester Öffentlichkeit vor einem gefüllten Zuschauerraum und vor der Presse statt. Dies führt zu einer fast archaischen „Prangerwirkung“, die Ruf und Ansehen des Angeklagten in persönlicher und beruflicher Hinsicht oft dauerhaft schädigt.[29] Dabei spielt der Ausgang des Prozesses kaum noch eine Rolle. Denn selbst wenn der Angeklagte freigesprochen oder das Verfahren eingestellt wird, gilt gerade in diesen Fällen der Satz: semper aliquid haeret, zumal wenn die Hauptverhandlung in kleinen Städten stattfindet und damit der individuelle Bekanntheitsgrad des Arztes das allgemeine Interesse zusätzlich weckt. So löst derselbe Fehler, der im Zivilprozess ohne größeres Aufsehen die Zahlungspflicht des Arztes bzw. der Versicherung begründet, im Falle einer Strafanzeige allein durch den ganz anderen Verfahrensgang und die damit mögliche Publizität mitunter verheerende Wirkungen mit meist nur schwer vorhersehbaren Weiterungen aus. Strafverfahren wegen berufsbedingter Pflichtverstöße und Versäumnisse sind deshalb in Ärztekreisen mit Recht besonders gefürchtet und werden als besonders bedrückend empfunden. Viele der beschuldigten Ärzte resignieren daher, sind nicht mehr bereit, Verantwortung zu übernehmen und stellen ihre operative Tätigkeit ein. Sie lassen sich, wenn möglich, vorzeitig pensionieren, vollziehen einen Berufswechsel innerhalb der medizinischen Fächer weg von den besonders haftungsträchtigen operativen Fachgebieten – Gynäkologie, Chirurgie, Orthopädie und Anästhesie – oder geben den Arztberuf gänzlich zugunsten einer anderen, weniger risikoreichen Berufstätigkeit im Außendienst eines Unternehmens oder im Management eines Krankenhauses auf. c) Hinzu kommt als weiteres belastendes Moment die lange Dauer der Ermittlungsverfahren, die sich meist über ein Jahr, häufig bis zu zwei Jahren und bei Einschaltung mehrerer Gutachter verschiedener Fachrichtungen auch noch deutlich länger hinziehen. Dies schafft Unsicherheit und Ungewissheit, die noch dadurch verstärkt werden, dass schon der bloße Verdacht einer strafbaren Handlung, aus der sich die Unwürdigkeit oder Unzuverlässigkeit des Arztes zur Ausübung seines Berufs ergibt, u.U. zum Ruhen der Approbation bzw. zur Aussetzung ihrer Erteilung (§§ 3 Abs. 5, 6 BÄO) führen kann.[30] Auch die Tatsache, dass staatsanwaltschaftliche Ermittlungen wegen eines berufsspezifischen Fehlverhaltens stets berufsrechtliche Verfahren auslösen[31] und wegen des möglichen „berufsrechtlichen Überhangs“ keineswegs „automatisch“ mit der Einstellung des Strafverfahrens ihr Ende finden, erhöht die persönliche Drucksituation und Zukunftsangst des Beschuldigten. d) Schließlich dürfen bei der Betrachtung der ärztlichen Haftungsstatistik die über den Einzelfall hinausgehenden Fernwirkungen in der gesamten Ärzteschaft nicht übersehen werden. Der erlebte Rechtsfall pflegt eine andere Einschätzung zu implizieren[32] als die bloße Analyse aus der kritischen Distanz des weder unmittelbar noch mittelbar beteiligten Juristen. Unter dem Eindruck des Haftungs- und Strafbarkeitsrisikos dürfte
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