Arztstrafrecht in der Praxis. Klaus Ulsenheimer
f) Kollegenneid, Intrigen, Missgunst und Konkurrenzdenken der Ärzte untereinander, insbesondere als Folge der verschlechterten wirtschaftlichen Bedingungen, sind häufig Ursachen für den Gang des Patienten zum Anwalt oder Staatsanwalt. Hausärzte und Fachärzte, Klinikärzte und niedergelassene Ärzte bekämpfen sich wechselseitig im Ringen um finanzielle Vorteile. Bemerkungen des nachbehandelnden Arztes wie: „Ja, wer hat denn an Ihnen herumgemurkst?“ oder: „Das würde ich nicht auf mir sitzen lassen.“, weisen in diese Richtung. Auch einseitige Sachverständigengutachten zu Lasten eines Kollegen unterstützen nicht selten dieses Vorgehen. g) Das für die frühere Zeit charakteristische Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient ist vielfach von einer rein geschäftsmäßigen, vertraglichen Beziehung abgelöst worden: Obschon einem übermäßigen Paternalismus nicht das Wort zu reden ist, ist doch festzuhalten, dass die Krankenbehandlung von beiden Seiten vermehrt als „Rechtsverhältnis“ wahrgenommen wird. Dies findet auch im Patientenrechtegesetz einen sichtbaren Ausdruck. Ziel dieses Gesetzes ist es, die Rechte der Patientinnen und Patienten[62] deutlich herauszustellen und die zahlreichen Pflichten des Arztes festzuschreiben. Dies kann die Klagefreudigkeit auf Patientenseite weiter beflügeln.[63] h) Das durch pseudowissenschaftliche Veröffentlichungen und populäre Erfolgsberichte ausgelöste übersteigerte Anspruchsdenken und die überzogene Erwartungshaltung der Patienten schließen aus Patientensicht den Misserfolg aus.[64] Die Folge davon sind Fortschrittsschelte und Medizinkritik, Unverständnis über ärztliches Versagen und nicht selten „der Gang zum Kadi“. i) Das gewachsene Selbstbewusstsein und die stärkere Konfliktbereitschaft der Patienten, befreit vom Kostenrisiko eines zweifelhaften Prozesses durch Rechtsschutzversicherungen, Prozessfinanzierungsgesellschaften, die Klagen gegen Ärzte als besonders „geeignet“ ansehen, und gefördert von Anwälten aus manchmal durchsichtigen eigenen Interessen,[65] beseitigen bzw. vermindern die psychologische Hemmschwelle, gegen „seinen“ Arzt und die Anstellungskörperschaft vorzugehen. j) Vergeltungswunsch, Ärger, Hass und ähnliche Motive des geschädigten Patienten oder seiner Familienangehörigen, oftmals ausgelöst durch fehlendes Einfühlungsvermögen, mangelnde Gesprächsbereitschaft und ungeschicktes (kommunikatives) Verhalten des betroffenen Arztes nach einem Zwischenfall, führen zu Strafanträgen und Strafanzeigen in nicht wenigen Fällen. k) Kosten- und risikolose Auskunfts- und Akteneinsichtsrechte des Verletzten im Strafprozess machen es – scheinbar – leicht, sich die für den Zivilprozess erforderlichen Unterlagen und Beweise über das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren zu beschaffen. Oft fruchtlose, aber sicher belastende Ermittlungsverfahren werden so eingeleitet, um das eigentliche Ziel des Schadensersatzanspruchs durchzusetzen. l) Einseitige antiärztliche Berichterstattung in Presse und Medien über die „Halbgötter in Weiß“ und reißerisch aufgemachte Presseberichte über ärztliche Fehler haben ein verzerrtes, negatives Arztbild entstehen lassen, das von Patientenschutzbünden und anderen Vereinigungen nachhaltig „gepflegt“ wird. Bisweilen nehmen Staatsanwälte solche Berichte sogar zum Anlass, Ermittlungsverfahren einzuleiten. m) Krankenkassen überprüfen zunehmend selbständig oder „sollen“ bei Verdacht auf Behandlungsfehler den Patienten mit Hilfe des „Medizinischen Dienstes“ unterstützen (§ 66 SGB V) und erstatten bisweilen selbst Strafanzeige. Auch private Krankenversicherungen gehen in gleicher Weise vor. All dies ist insbesondere im Kontext der Abrechnungen nicht selten von dem primären Ziel getragen, die eigene Bilanz ggf. sogar durch den Einsatz einer eigenen Taskforce aufzuhellen: Kassen suchen auch ohne Anhaltspunkte für eine qualitativ schlechte Versorgung der Patienten gezielt Felder, auf denen sie infolge des – im Strafrecht fatal wirkenden – Anspruchsverlusts bei Verstößen gegen Abrechnungsvorschriften windfall profits erzielen können. n) Todesermittlungsverfahren nach Feststellung eines „unnatürlichen“ oder „nicht aufgeklärten“ Todes auf dem sog. Totenschein gemäß § 159 StPO münden bei „zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten“ in ein Strafverfahren wegen fahrlässiger Tötung oder Körperverletzung. o) Das Arzthaftungsrecht ist in seinen Voraussetzungen und Folgen weitgehend durch die Spruchpraxis der Zivilgerichte geformt worden. Mit ihren unter Umständen überzogen scheinenden Anforderungen an die ärztliche Aufklärungspflicht, insbesondere hinsichtlich des Umfangs der Aufklärung bei den sog. eingriffsspezifischen Risiken, sowie durch vielfältige Beweislastregelungen zugunsten der Patienten, etwa bei groben Behandlungsfehlern, unzulänglicher oder fehlender Dokumentation, mangelnder Befunderhebung oder bei Gerätedefekten wurden im Laufe der letzten drei Jahrzehnte die Möglichkeiten der Patienten, gegen Ärzte und Krankenhäuser vorzugehen, erheblich ausgeweitet und damit die Klagefreudigkeit nachhaltig gestärkt. Dies blieb nicht ohne Rückwirkung auf die strafrechtliche Verfolgungshäufigkeit. Da das neue Patientenrechtegesetz das erklärte Ziel verfolgt, Patientinnen und Patienten bei der Durchsetzung ihrer Rechte zu unterstützen, setzt dieses Gesetz einen weiteren Impuls zu mehr Klagen und damit zu mehr flankierenden Strafanträgen und Strafanzeigen. p) Auch die strafrechtliche Judikatur und Verfolgungspraxis der Staatsanwaltschaften tragen erheblich zur Strafbarkeitsexpansion im Arztrecht bei. Hervorzuheben sind insoweit: die fast ausnahmslose, nicht revisibele Bejahung des „besonderen öffentlichen Interesses“ bei fahrlässiger Körperverletzung (§ 230 StGB), die erleichterte Kausalitätsfeststellung bei §§ 222, 229 StGB, das Einschreiten ex officio bei fehlender oder nicht ordnungsgemäßer Aufklärung, die Unterstellung vorsätzlichen Handelns im Rahmen des § 323c Abs. 1 StGB sowie die Überdehnung des Untreue- und Betrugstatbestandes im Gesundheitswesen.