Arztstrafrecht in der Praxis. Klaus Ulsenheimer
erörtert worden war, wies der BGH den Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung an das OLG zurück. Im Strafprozess trifft den Arzt zwar keine Beweislast für die ordnungsgemäße Aufklärung, doch wenn sich für die Erfüllung der Informations- und Kontrollpflichten des Chefarztes keinerlei konkrete Umstände finden, wird es schwer sein, den Vorwurf des Organisationsverschuldens auszuräumen.
(b) Organisation des Bereitschaftsdienstes und der Rufbereitschaft
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Den Leitenden Arzt trifft die Pflicht, für die ordnungsgemäße Organisation des Bereitschaftsdienstes und der Rufbereitschaft Sorge zu tragen, klare Einsatzpläne und Vertreterregelungen zu erlassen und die notwendigen kompetenzmäßigen Abgrenzungen untereinander vorzunehmen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang insbesondere auch die Einhaltung der Einsatzzeiten, die in den Fachgebieten Geburtshilfe und Anästhesie sehr kurz sind. Nach den Empfehlungen dieser beiden Fachgesellschaften „soll“ ein (im Hintergrunddienst) rufbereiter Facharzt innerhalb von 10 Minuten im Krankenhaus ebenso zur Verfügung stehen wie der in Rufbereitschaft befindliche Anästhesist (Mindestanforderungen an prozessuale, strukturelle und organisatorische Voraussetzungen für geburtshilfliche Abteilungen, Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe[196]). Nach Ansicht des OLG Braunschweig liegt ein Organisationsfehler vor, wenn eine Schwangere über einen Zeitraum von 15 Minuten nach ihrer Notfallaufnahme noch nicht einmal untersucht und der Kaiserschnitt erst nach ca. 57 Minuten durchgeführt wurde. In einem Krankenhaus, das sich an der Notversorgung von Patienten beteiligt, muss sichergestellt sein, „dass eine Notsectio innerhalb von 20-25 Minuten erfolgen“ kann.[197] Den organisatorischen Anforderungen genügt es deshalb nicht, wenn der rufbereite Anästhesist erst nach 20-25 Minuten im Krankenhaus eintrifft.[198] Dabei sind z.B. auch nicht völlig unabsehbare Verkehrsprobleme (etwa zur Winterzeit) zu berücksichtigen.[199] So hat eine Staatsanwaltschaft die Auffassung vertreten, dass der Anästhesist „auch mögliche Verkehrsstaus“ einkalkulieren müsse und es deshalb zu seinen Lasten gehe, wenn er erst verspätet zu einer Sectio komme und dadurch das Kind eine schwere Hirnschädigung oder den Tod erleidet. Eine „geeignete Vorkehrung“ gegen solche Hindernisse lässt sich letztlich nur dadurch treffen, dass der Rufdienst im Krankenhaus als Bereitschaftsdienst ausgeübt wird.[200]
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Angesichts der finanziellen Probleme vieler Krankenhäuser wird immer wieder versucht, durch Einrichtung eines fachübergreifenden Bereitschaftsdienstes Kosten zu sparen. Insbesondere für die betroffenen Ärzte birgt diese organisatorische Regelung erhebliche Haftungsrisiken, und zwar auch in strafrechtlicher Hinsicht, wie der folgende, vom Landgericht Augsburg nach 3-tägiger öffentlicher Hauptverhandlung entschiedene Fall zeigt.[201]
Nach einer erfolgreichen, komplikationslosen subtotalen Strumaresektion beidseitig kam die Patientin zunächst in den Aufwachraum und von dort gegen 16.00 Uhr in wachem und ansprechbarem Zustand auf die Chirurgische Normalstation. Dort war zum nächtlichen Bereitschaftsdienst ein Assistenzarzt der Inneren Abteilung eingeteilt, während der Oberarzt der Chirurgischen Abteilung Rufbereitschaft hatte. Bei seiner letzten Visite gegen 18.00 Uhr fand er die Patientin ohne Beschwerden vor.
Um 19.10 Uhr wechselte die Stationsschwester zum zweiten Mal eine Redonflasche, da diese erneut fast vollständig mit Blut vollgelaufen war, und verständigte, nachdem sie bereits gegen 19.30 Uhr wiederum gefüllt war, den Dienst habenden Bereitschaftsarzt (Assistenzarzt der Internistischen Abteilung). Dieser erkannte, „bedingt durch mangelnde Kenntnis auf dem für ihn als Internisten fachfremden Gebiet postoperativer Komplikationen nach einer Schilddrüsenoperation“ nicht, dass der bereits eingetretene erhebliche Blutverlust ein „ausreichender Anhaltspunkt für das Bestehen einer akuten Nachblutung war“. Er legte deshalb lediglich einen zusätzlichen venösen Zugang, führte der Patientin per infusionem das Blutersatzmittel HES zu und ordnete im Übrigen an, sie zu beobachten und ihm etwaige „weitere Wechsel der Redonflaschen mitzuteilen“. Nach etwa 10-15 Minuten ging er zurück auf sein Dienstzimmer.
Schon 5-10 Minuten später rief die Stationsschwester ihn erneut an und teilte mit, sie habe abermals die Redonflasche wechseln müssen, außerdem habe die Patientin leichte Atemnot. Der Assistenzarzt sah „kein unmittelbares Eilbedürfnis“, sondern ordnete nur telefonisch an, „der Patientin Sauerstoff über eine Nasensonde zuzuführen“. 1-2 Minuten später erhielt er jedoch „per Notfallpiepser“ den Anruf, sofort zur Patientin zu kommen, deren Hals bei seinem Eintreffen infolge der Nachblutung deutlich geschwollen war. Sie „saß mit blau angelaufenem Gesicht und geweiteten Pupillen in verkrampfter Haltung nach vorn gebeugt“ auf ihrem Bett, „rang nach Luft und war bereits dem Ersticken nahe“, heißt es im Sachverhalt des Urteils. Der Assistenzarzt erkannte nunmehr die Gefahr einer Sauerstoffunterversorgung des Gehirns und entschied sich für eine sofortige Intubation (die möglicherweise misslang). Unmittelbar anschließend ließ er die Patientin auf die Intensivstation bringen.
Dort erlitt die Patientin um 20.02 Uhr einen Herzstillstand, der jedoch aufgrund der eingeleiteten Reanimationsmaßnahmen überwunden wurde, doch konnte die von dem zu Hause verständigten chirurgischen Oberarzt durchgeführte Revisionsoperation nicht verhindern, dass der hypoxische Hirnschaden, bedingt durch den Sauerstoffmangel infolge der Kompression der Luftröhre, bestehen blieb und die Patientin sich seitdem in einem Wachkoma befindet.
Die Staatsanwaltschaft erhob gegen den Chefarzt der Chirurgischen Abteilung und den Assistenzarzt der Inneren Abteilung Anklage wegen fahrlässiger Körperverletzung mit folgender Begründung:
Betreffend den Assistenzarzt:
Er hätte spätestens um 19.30 Uhr nach Feststellung des vermehrten Blutverlustes entweder sofort den zuständigen Oberarzt der Chirurgie verständigen oder aber die Rückverlegung der Patientin auf die Intensivstation anordnen müssen. Angesichts der dramatischen Zuspitzung ihres Gesundheitszustands hätte er deren Situation erkennen können und wissen müssen, dass er fachkundige Unterstützung benötigt.
Betreffend den Chefarzt:
Das Fehlverhalten des Assistenzarztes zeige, dass er ohne die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten im alleinigen Nachtdienst nicht hätte eingesetzt werden dürfen. Der Chefarzt hätte angesichts der allgemein bekannten Risiken nach Schilddrüsenoperationen wissen können und müssen, dass die Einteilung eines Assistenzarztes der Inneren Abteilung im fachübergreifenden Bereitschaftsdienst ein nicht vertretbares Risiko für Patienten darstelle. Seine Aufgabe wäre es daher gewesen, gegenüber der Geschäftsführung des Krankenhauses darauf hinzuweisen und ggf. geltend zu machen, dass „wirtschaftliche Überlegungen die Bereitstellung zweier paralleler Bereitschaftsdienste rund um die Uhr nicht verhindern dürfen, soll nicht das Leben und die Gesundheit der Patienten gefährdet werden“. Der Chefarzt hätte entweder anordnen müssen, Schilddrüsenpatienten innerhalb der ersten 24 Stunden nach der Operation auf der Intensivstation zu lassen, oder aber bei elektiven Eingriffen derartige Operationen nur an Tagen durchzuführen, an denen ein Chirurg Bereitschaftsdienst hat. Soweit dies organisatorisch nicht möglich war, hätte er dafür sorgen müssen, dass fachfremde Bereitschaftsärzte in geeigneter Form darin unterwiesen werden, das Bestehen solcher Nachblutungen zu erkennen.
Der Chefarzt der Chirurgischen Abteilung wurde wegen fahrlässiger Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen verurteilt, das Verfahren gegen den Assistenzarzt der Inneren Abteilung gegen Zahlung einer Geldauflage von 3.000 € eingestellt.
Aus der Begründung des landgerichtlichen Urteils, der vorliegenden Judikatur und Literatur zur Problematik des fachübergreifenden Bereitschaftsdienstes ergeben sich folgende Schlussfolgerungen:
1. | Die Urteile des Bayer. VGH und des VG Hannover[202] sind im Ergebnis abzulehnen. Sie haben vorwiegend fiskalisch-finanzielle Erwägungen angestellt, die haftungsrechtliche Seite des Problems dagegen weitgehend außer Acht gelassen. |
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