Kriminologie. Tobias Singelnstein
als eigenständiges Fach aus. Die Befassung mit Kriminalität erfolgt nicht aus Expert:innensicht, sondern aus der Perspektive einzelner Universalgelehrter und folgt dem zwiespältigen Anliegen einer humanitären und zugleich effizienzorientierten Strafrechtskritik. Bewusst wird auf die Suche nach charakteristischen Merkmalen von Rechtsbrecher:innen verzichtet. Ein Konzept für einen speziell auf Kriminalität bezogenen Untersuchungsansatz fehlt. Das Verbrechen wird als eine allgegenwärtige Versuchung für alle Menschen betrachtet. Differenzierende Erklärungen dafür, warum einige dem Verbrechen verfallen und andere nicht, werden nicht gegeben.
III. Die Herausbildung der modernen Kriminologie im 19. Jahrhundert
Lektüreempfehlung: Becker, Peter (2002): Verderbnis und Entartung. Göttingen, 11-34; Crews, Angela D. (2009): Biological Theory. In: Miller, J. Mitchell (Hrsg.): 21st Century Criminology. Vol 1. Thousand Oaks, 184-200.
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Nachdem das Bürgertum an die Macht gelangt ist, setzen sich die Vorstellungen Beccarias nur unvollkommen durch. Das ökonomische Kalkül des Strafens der Klassischen Schule ist auf eine Gesellschaft gleicher, wirtschaftlich und politisch emanzipierter Citoyens gemünzt. Mit dem Aufkommen des Industrieproletariats und der zunehmenden Verhärtung der Klassenauseinandersetzung verliert Beccarias Konzept seinen gesellschaftlichen Bezug. Die weitgehend mit Armut [58] und Elend zusammenhängende Kriminalität wird zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Gefahr für das Bürgertum durch verdorbene, Freiheiten missbrauchende Halunk:innen interpretiert. Der moralisierende Diskurs über das verbreitete Gauner:innentum dient dem Schutz von Eigentum und Privilegien der wohlhabenden Bürger und legitimiert sicherheitspolizeiliche Interventionen.
13 Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts bestimmen zwei weitere, einander konträre Vorstellungen das Bild der Kriminellen: Der sozial verelendete und der von seiner Natur her degenerierte, krank entartete Mensch. In Abgrenzung von der Klassischen Schule verbindet sich mit beiden Vorstellungen eine Abhängigkeit der Kriminalität von determinierenden Umständen, welche das Individuum dauerhaft prägen und besonders die karrierehafte schwerwiegende Kriminalität erklären sollen.69 Erstmals in Frankreich erfolgt durch Alexandre Lacassagne (1843-1924) und Gabriel Tarde (1843-1904) eine milieubezogene Betrachtung des Verbrechens. Die frühen Studien formulieren eher Programmsätze als prüfbare Annahmen (Lacassagne: „Les sociétés ont les criminels qu’elles méritent!“70) und verfolgen keine spezifischen Ziele der Kriminalitätsprävention, sondern wollen allgemeiner private karitative Bemühungen in Abstinentenverbänden und Besserungsvereinen sowie staatliche Benachteiligtenhilfe fördern.
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Eine zunächst ähnlich vorwissenschaftliche Neugier richtet sich auf die aus physikalischen Eigenheiten von Individuen erkennbare naturhafte Veranlagung zum Verbrechen. Die Physiognomie als die Lehre von der charakterlichen Bestimmung eines Menschen durch äußerliche Merkmale wird bereits von Aristoteles praktiziert und erstmals 1586 von Giambattista della Porta (1535-1615) systematisch entwickelt. Ausgangs des 18. Jahrhunderts studiert der Zürcher Pfarrer Johann Caspar Lavater (1741-1801) die Gesichtszüge hingerichteter Missetäter:innen und leitet daraus eine „Kriminalphysiognomie“ ab.71 Wenige Jahrzehnte später schließt der badische Arzt Franz Josef Gall (1758-1828) aus der Schädelform des Menschen, die sich den je individuell ausgeprägten Hirnteilen anpasse, auf charakteristische Anlagen und begründet mit seiner „Cranioscopie“ genannten Methode die später umfassend auf Gehirn, Veranlagung und Verhalten bezogene Phrenologie.72
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[59] Die moderne Kriminologie als Fach mit einem systematisch erlangten und wissenschaftlich akkreditierten Wissensbestand entwickelt sich, als im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts das wissenschaftliche Interesse an einer Erklärung der Ursachen von Kriminalität mit den spezifischen administrativen Bedürfnissen des Kriminaljustizsystems zusammentrifft. Die Verbindung des wissenschaftlich auf die Kriminalitätsursachen gerichteten, also ätiologischen, mit dem auf staatliche Kriminalitätsbekämpfung gerichteten gouvernementalen Anliegen erschafft die Kriminologie als Wissenschaft der Kriminalitätsursachenergründung im Dienste der staatlichen Kriminalitätskontrolle. Noch immer sind es die gesellschaftliche Umwelt und die natürliche Veranlagung, die als Kriminalitätsursachen in den Blick genommen werden. Aber nun erfolgt die Prüfung möglicher Ursachen professionalisierter und mit klarem Fokus auf die Optimierung der Kriminalitätskontrolle.
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Seither ist die Kriminologie im Kräftefeld zwischen wissenschaftlicher Autonomie und Praxisnutzen gefangen und bewegt sich darin auf unterschiedlichen Positionen. Dies hätte sich auch anders entwickeln können: Das theoretische Projekt einer akademischen Wissenschaft der gesellschaftlichen Normabweichung ohne strafrechtlichen Themen- und Relevanzbezug wäre ebenso möglich gewesen wie eine auf die Zulieferung nützlicher Informationen gepolte instanzenabhängige Institution ohne akademischen Anspruch.73
17 Die gesellschaftliche Beeinflussung der Kriminalität wird von dem französischen Soziologen Emile Durkheim (1858-1917) auf Modernisierungsprozesse in der arbeitsteiligen Industriegesellschaft bezogen und führt zu einer eigenständigen Kriminalitätserklärung aus einem „anomisch“ genannten gesellschaftlichen Zustand (→ § 9 Rn 3 ff.). Ähnlich ambitiös ist die von dem Belgier Lambert Adolphe Quételet (1796-1874) in seiner „Physique Sociale“ von 1834/35 entwickelte Politische Arithmetik.74 In dieser „Sozialen Physik“ geht es darum, menschliche Handlungen, die einzeln betrachtet willkürlich erscheinen, in ihrer Gesamtheit zu studieren und dabei statistische Gleichförmigkeiten zu erkennen. Gerade bei der mengenmäßigen Betrachtung von Verbrechen, bei denen man eigentlich annehmen würde, dass sie der menschlichen Voraussicht entgehen, sei eine auffällige Beständigkeit hinsichtlich Art und Häufigkeit, die Voraussagen erlaube, erkennbar. Der Gebrauchsnutzen der Kriminalarithmetik wird ausdrücklich darin gesehen, durch die Betrachtung der Kriminalität als [60] aggregierte Datenmenge zu einem vernunftgerechten Einsatz der Ressourcen des Kriminaljustizsystems beizutragen:
„Es gibt ein Budget, das mit erschreckender Regelmäßigkeit bezahlt wird, nämlich das der Gefängnisse, der Galeeren und Schafotte. […] Wir können im voraus aufzählen, wie viele ihre Hände mit dem Blute ihrer Mitmenschen besudeln werden, wie viele Fälscher, wie viele Giftmischer es geben wird, fast so, wie man im voraus die Geburten und Todesfälle angeben kann, die einander folgen müssen.“75
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Das Ende des 19. Jahrhunderts ist durch einen kometenhaften Fortschritt in den medizinischen und biologischen Wissenschaften geprägt. Charles Darwins (1809-1882) Theorie der Evolution kraft natürlicher Selektion wird von Herbert Spencer (1820-1903) auf das Prinzip des survival of the fittest zugespitzt und auf das Lebewesen Mensch und gesellschaftliche Prozesse übertragen. Dies bildet nunmehr den theoretischen Deutungsrahmen für die Entstehung von Kriminalität. Zudem kommt die für die Psychologie folgenreiche Vorstellung auf, Menschen verrieten ihre Charaktereigenschaften unbewusst durch die Art ihres Benehmens, durch ihre Körpersprache und Mimik. Die Zurückführung der Kriminalität auf dauerhafte und vererbliche Einflüsse der menschlichen Natur verdrängt nunmehr Spekulationen über gesellschaftliche Faktoren und wird zur dominanten monokausalen Kriminalitätserklärung. Die Identifizierung und Aussonderung von Individuen mit negativ bestimmten, als dauerhaft und vererblich eingeschätzten Eigenschaften ist ein seit der Antike bekanntes Mittel staatlicher Bevölkerungskontrolle, welches nunmehr zum Programm einer naturwissenschaftlich „rationalen“ staatlichen Kriminalitätsbekämpfung gemacht wird.76
19 Das Bemühen um methodische Tatsachenerkenntnis