Kriminologie. Tobias Singelnstein
also solchen, bei denen die Beobachtenden durch bloße Anwesenheit oder aktive Teilnahme Teil des Interaktionsgeschehens sind, und nicht-teilnehmenden Beobachtungen. Während ethnografische Studien auf Grundlage von Beobachtungen im angloamerikanischen Raum häufiger vorkommen, sind sie in der deutschsprachigen kriminologischen Forschung eher selten. Aus der Nähe der Forschenden zum Feld ergibt sich einerseits die Möglichkeit, menschliche Interaktionen direkt und nicht vermittelt über die Aussagen Dritter wahrzunehmen und den nonverbalen Kontext des Verhaltens zu beobachten. Andererseits hat die Anwesenheit von Beobachtenden einen Einfluss auf die Situation, in der sich die Beobachtung [71] vollzieht. Eine neutrale Beobachtung ohne Interaktion mit dem sozialen Beobachteten ist nicht möglich.101 Dies wird als reaktiver Effekt bezeichnet und kann dazu führen, dass die Testpersonen ein anderes Verhalten an den Tag legen, als sie dies ohne (offene) Beobachtung tun würden.102
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Bei der Methode des Experiments wird ein Verhalten oder Geschehen untersucht, dessen Bedingungen durch die forschende Person vorab festgelegt sind.103 Das zu untersuchende Geschehen wird dabei unter verschiedenen Bedingungen wiederholt, um so die Abhängigkeit einer Variable von einer anderen festzustellen, z. B. den Einfluss einer Interventionsart auf das generelle Ausmaß an Straffälligkeit.104
III. Ablauf eines Forschungsprojekts
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Eine empirische Untersuchung kann in Konzipierungs-, Durchführungs- und Auswertungsphase eingeteilt werden. In der Konzipierungsphase wird festgelegt, was erforscht wird und wie dies passieren soll. Hierfür wird eine Forschungsfrage formuliert und eine Forschungsstrategie entwickelt.105 Dabei reflektieren die Forschenden idealerweise auch ihre ontologischen und erkenntnistheoretischen Positionen. Ontologische Positionen betreffen die eigenen Vorstellungen über die „Natur“ der Wirklichkeit, erkenntnistheoretische die Frage nach der „Natur“ von Wissen und die Zugänglichkeit der Wirklichkeit. Hierbei lassen sich zwei Grundpositionen unterscheiden: Eine konstruktivistische, die Wirklichkeit als soziales Konstrukt versteht, das nur subjektiv erfassbar ist, und eine positivistische, die die Wirklichkeit als unabhängig existierenden und objektiv erfassbaren Gegenstand auffasst, der erklärt werden kann (→ § 2 Rn 6 ff.).106 Ebenfalls entscheidend sind die eigenen Vorannahmen über den Forschungsgegenstand Kriminalität. Dieser kann eher aus einer ätiologisch-erklärenden Perspektive oder aus einer interaktionistischen Perspektive untersucht werden, wobei bei letzterer die Kriminalisierung das primäre Erkenntnisinteresse ausmacht.
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[72] Auf dieser Basis wird dann das Forschungsdesign entwickelt. Hier ist zu klären, welche Daten mit welchen Methoden wie erhoben und ausgewertet werden sollen, um die jeweilige Fragestellung möglichst optimal zu untersuchen.107 Dabei kann zwischen Längsschnitt- und Querschnitt-Design unterschieden werden. Bei Längsschnitt-Studien gibt es wiederholte Erhebungen zu mindestens zwei unterschiedlichen Zeitpunkten, um so prozesshafte Entwicklungen nachzuzeichnen. Die wiederholten Erhebungen können entweder bei unterschiedlichen Stichproben (Trenddesign) oder bei ein und derselben Stichprobe erfolgen (Paneldesign). Bei Querschnitt-Forschungen werden hingegen nur einmalig Daten erhoben, sodass keine Aussagen über Veränderungen im Zeitverlauf möglich sind.108
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Generelle theoretische Kategorien und Konzepte wie Kriminalität oder das Klima einer Strafanstalt können mit den beschriebenen Methoden nicht direkt gemessen werden. Sie müssen hierfür operationalisiert, also die Operationen beschrieben werden, die zur Messung des jeweiligen Konzepts erforderlich sind.109 Dies bedeutet, Kriterien zu entwickeln, anhand derer die jeweilige Kategorie bzw. das Konzept mit den gewählten Methoden messbar ist. Um z. B. Kriminalität zu messen, muss festgelegt werden, anhand welcher messbaren Kriterien bestimmt werden soll, was als Kriminalität im Sinne des Forschungsprojektes gilt, beispielsweise ein angezeigter Fall oder verurteilte Tatverdächtige.
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Bei der Datenerhebung muss zunächst über deren Umfang entschieden werden. Dies ist bei quantitativen Methoden von besonderer Relevanz. Da eine Totalerhebung, bei der die interessierenden Aspekte der Wirklichkeit umfassend untersucht werden, nur selten möglich und ökonomisch sinnvoll ist, wird in der Regel eine Teilerhebung vorgenommen. Um z. B. Aussagen über eine Großstadt treffen zu können, müssen nicht all deren Einwohner:innen befragt werden, sondern es genügt die Befragung eines Teils der Bevölkerung – sogenannte Stichprobe –, um Aussagen über die Gesamtbevölkerung der Stadt treffen zu können. Damit die Aussagen über die Stichprobe auf die Gesamtheit übertragen werden können, ist es wesentlich, dass die Stichprobe (sample) repräsentativ ist. Dies erfolgt in Form einer Zufallsstichprobe und damit in der Weise, dass alle Einheiten der Grundgesamtheit die gleiche Wahrscheinlichkeit haben, Teil der Stichprobe zu werden.110 Allerdings sind die Stichproben nicht bei allen empirischen [73] Untersuchungen repräsentativ. Vielmehr gibt es auch viele quantitative Studien, die nicht repräsentativ sind, etwa weil es methodisch nicht möglich oder zu teuer wäre, eine repräsentative Stichprobe zu bilden. Auch solche Untersuchungen erbringen wissenschaftliche Erkenntnis. Ihre Ergebnisse können aber nicht einfach verallgemeinert und auf die Grundgesamtheit bezogen werden.
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Auf die Konzipierung folgt die Durchführungsphase, in der die Datenerhebung vorgenommen wird. In der daran anschließenden Auswertungsphase werden die erhobenen Daten eingehend analysiert und bewertet, um das so gewonnene Wissen mit den Ausgangshypothesen abzugleichen. Dabei lassen sich quantitative Daten statistisch auswerten. Auf diesem Weg sind Aussagen über die Häufigkeitsverteilung bestimmter Merkmale in einer Gruppe oder über Beziehungen (Korrelationen) zwischen zwei oder mehreren Variablen möglich.111 So kann in einer Studie z. B. untersucht werden, ob die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Straftat zu werden, gleichmäßig nach Geschlecht, Alter oder ethnischer Zugehörigkeit verteilt ist oder ob zwischen den Variablen Alter und strafrechtliche Registrierung eine Korrelation besteht. Qualitative Verfahren erfordern hingegen andere Auswertungsmethoden, die je nach dem gewählten Forschungsdesign variieren. Neben freieren Formen der Interpretation ist die Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring112 mit einer systematischen Vorgehensweise eine häufig genutzte Methode.113
1 Garofalo 1885.
2 Lautmann 2014.
3 In Deutschland bestehen solche Dienste beim Bundeskriminalamt (BKA), beim Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) sowie bei der Kriminologischen Zentralstelle (KrimZ). Daneben sind in den Landesjustizministerien sogenannte Kriminologische Dienste eingerichtet.
4 So etwa Sack 1990, 15.
5 „Unified body of knowledge“, so Fattah 1997, 173; ähnlich Göppinger 2008, § 1 Rn. 5, § 3 Rn. 13 ff.; Schneider 1993, 3.