Kriminologie. Tobias Singelnstein
des 19. Jahrhunderts ein Observatorium, in dem der homo criminalis in Aussehen, Konstitution und Alltagsverhalten durch Verhaltensforschende und Ärzt:innen studiert werden kann. Die dort mögliche Beobachtung dient der Optimierung der dem Strafvollzug zugedachten Wirkungen: In der Tradition der (wörtlich zu nehmenden) Korrektur-Anstalt und des Zucht-Hauses sucht man in den Strafanstalten Arbeitsdisziplin zu vermitteln. Damit soll innerhalb der Gefängnispopulation eine Auslese getroffen werden zwischen den an die Arbeitsmoral Anpassungsfähigen, [61] die sich alsbald in Freiheit bewähren dürfen, und den Unverbesserlichen. Prägend ist die Vorstellung, dass es neben besserungsfähigen die unverbesserlichen Straftäter:innen gebe, die unschädlich zu machen seien. Von daher ist es nur folgerichtig, dass sich das Augenmerk der Kriminologie nunmehr auf die Identifizierung jener unverbesserlichen Straftäter:innen richtet, deren Natur zum Verbrechen drängt.77
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Gründer und Leitfigur der positiven Schule ist der Veroneser Arzt Cesare Lombroso (1835-1909). Dieser entwickelt in seinem 1876 erschienenen Buch „L’uomo delinquente“78 das biologische Verständnis der Kriminalität zu einem in sich geschlossenen Erklärungsansatz mit wissenschaftlichem Anspruch. Die klassische Prämisse rational und willensfrei handelnder Individuen wird durch die Annahme ersetzt, menschliches Verhalten sei durch angeborene Charakterzüge determiniert. Die Menschen werden nicht als gleich verstanden, sondern unterschiedlichen Typen zugeordnet, von denen jeder eine bestimmte charakteristische Neigung zur Tugend oder zum Laster besitzt. Daraus folgt, dass die Kriminalität nunmehr täter:innenbezogen erklärbar wird durch die mit medizinisch-naturwissenschaftlichen Untersuchungen zu erlangende Erkenntnis jener Faktoren, welche die fundamentalen angeborenen Unterschiede zwischen den „Kriminellen“ und den übrigen Menschentypen ausmachen.
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Untersuchungen an Sträflingen und teils gewagte, durch Darwins Evolutionstheorie inspirierte Mutmaßungen lassen Lombroso annehmen, Verbrecher:innen seien an ererbten körperlichen und seelischen Anomalien wie einer fliehenden Stirn, hohen Backenknochen, krausem Haar, Gemütsarmut, Grausamkeit, Hemmungslosigkeit und weitgehender Schmerzunempfindlichkeit erkennbar. Delinquent:innen würden einen Rückfall in frühe Entwicklungsstadien der Menschheit verkörpern, ein von tierähnlichen Trieben beherrschtes wildes, atavistisches Wesen. Aufgrund ihrer ererbten und daher unveränderlichen Anlage würde jedenfalls ein Teil der Delinquent:innen (bis zu 35 %) zwanghaft zum Verbrechen getrieben; diese verkörperten den anthropologischen Typus des „geborenen Verbrechers“.
„Wer uns bis hierher gefolgt ist, wird zugeben, dass viele Charaktere, welche die Wilden darbieten, sich sehr oft bei den geborenen Verbrechern finden, so z. B. die geringe Körperbehaarung, die geringe Schädelkapazität, die fliehende Stirn, die stark entwickelten Sinus frontales, die grosse Häufigkeit der Schaltknochen, die [62] frühzeitigen Synostosen, das Vorspringen der Schläfenbogenlinie, die Einfachheit der Nähte, die grössere Dicke der Schädelknochen, die gewaltige Entwicklung der Kiefer und Jochbögen, die Prognathie, die Schiefe der Orbiten, die starke Pigmentation der Haut, das dichte krause Haar, die grossen Ohren, ferner der Lemuren-Fortsatz des Unterkiefers, die Anomalien des Ohrs, das Diastem, die grosse Agilität, die Herabsetzung der Berührungs- und Schmerzempfindung, die hohe Sehschärfe, die Gleichgültigkeit gegen Verletzungen, die Gefühlsabstumpfung, die Frühzeitigkeit der sexuellen Regungen, die zahlreichen Analogien zwischen beiden Geschlechtern, die geringe Besserungsfähigkeit des Weibes (Spencer), die Faulheit, das Fehlen von Gewissensvorwürfen, die Haltlosigkeit, physisch-psychische Erregbarkeit, die Unvorsichtigkeit, welche manchmal wie Mut aussieht und der Wechsel von Wagehalsigkeit und Feigheit, die grosse Eitelkeit, die Spielleidenschaft und die Neigung zum Alkoholismus, die Gewalttätigkeit und die Flüchtigkeit ihrer Leidenschaften, der Aberglaube, die aussergewöhnliche Empfindlichkeit in Bezug auf die eigene Persönlichkeit und der besondere Begriff von Gott und von Moral.“79
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Die kriminalanthropologischen Studien Lombrosos sowie seiner Schüler Enrico Ferri (1856-1929) und Raffaele Garofalo finden in der Fachwelt unterschiedliche Wertschätzung. Für die einen sind diese Studien eine Stammwurzel der empirischen täter:innenbezogenen Kriminologie, der gerichtlichen Psychiatrie und der Rechtspsychologie.80 Für andere sind die vertretenen Annahmen grotesk und wissenschaftlich unhaltbar. Die Darstellung des „geborenen Verbrechers“ wird verbreitet als eine zerrbildliche Kuriositätenmalerei verstanden, die den Mythos von der Bestialität des „Wilden“ in eine empirische Form zu bringen sucht. Bereits die Prämisse von der Wildheit als dem Ursprung des Bösen ist wissenschaftlich nicht begründbar, wie die Gegenposition von Friedrich Nietzsche (1844-1900) belegt, der den Gewaltüberschwang des Lebens nicht bloß als Ausdruck von Gesundheit, sondern gar von Moral versteht81. Zeitgenössische empirische Studien etwa durch den Berliner Gefängnisarzt Baer und den englischen Psychiater Goring82 bestreiten die biologische Bestimmbarkeit eines Verbrecher:innentypus.
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Aus heutiger Sicht ist die positive Schule angreifbar. Methodisch ist sie unzulänglich: Zu kleine Untersuchungseinheiten, kaum Vergleichsgruppen, Beschränkung auf Extremgruppen von Straftäter:innen. Ihre Rolle in der nationalsozialistischen Rassen- und Sippenforschung ließ eine Art Berührungsangst [63] gegenüber biologischen Kriminalitätserklärungen aufkommen. Freilich erlebt derzeit der Versuch, das Verbrechen auf die menschliche Natur zurückzuführen, eine neue Blüte (→ § 7 Rn 15 ff.; § 8).83
24 Die Einseitigkeit der biologischen Verbrechenserklärung ließ diese stets umstritten bleiben. Der zwischen Mediziner:innen und Psychiater:innen gegen Soziolog:innen ausgetragene Streit um den Anlagen- oder Umwelteinfluss auf die Kriminalität erschien Polizei, Strafjustiz und Strafvollzug jedoch bald als müßig. Im Interesse konkreter Reformen drängte die Praxis auf eine nicht wissenschaftlich begründete, sondern eher im Sinne eines pragmatischen Kompromisses zu verstehende Formel, dass das Verbrechen sowohl durch die Anlage als auch durch die Umwelt beeinflusst werde. Dieser Kompromiss wurde von der 1888 gegründeten Internationalen Kriminalistischen Vereinigung beschlossen und durch den Strafrechtsreformator Franz von Liszt (1851-1919) als Vereinigungsgedanken formuliert:
„Das Verbrechen ist […] wie jede menschliche Handlung, das notwendige Ergebnis aus der teils angeborenen Eigenart des Täters einerseits, der ihn im Augenblick der Tat umgebenden gesellschaftlichen, insbesondere wirtschaftlichen Verhältnisse andererseits.“84
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Ein solches „sowohl als auch“ ist weithin konsensfähig, weil es sich unter Ausklammerung eines unentscheidbaren wie unergiebigen theoretischen Disputs den kleinsten gemeinsamen Nenner der Theorieannahmen zu eigen macht. Dies entspricht nicht nur dem gerne bemühten „gesunden Menschenverstand“, der schon immer um das Körnchen Wahrheit wusste, das jeder Erklärungsmöglichkeit von Kriminalität eigen ist.
26 Die von verschiedenartigen Ursachen der Kriminalität ausgehende, also: multikausale Kriminalitätserklärung (→ § 10 Rn 24 ff.) kommt verbreiteten Vorstellungen entgegen, wie sie in einem gemäßigten kriminalpolitischen Klima, das der Prävention Vorrang vor der Repression einräumt, eine gute Sozialpolitik als die beste Kriminalpolitik versteht und die Besserung der Rechtsbrechenden zur vordringlichen Aufgabe des Strafrechts erklärt, vorherrschen. Mit seiner Marburger Antrittsvorlesung 1882 („Marburger Programm“85) beeinflusst von Liszt [64] dieses Klima maßgeblich und stellt damit die Weichen für das spezialpräventive Behandlungsstrafrecht.
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