Kriminologie. Tobias Singelnstein
id="ulink_e3f7fede-56d9-5396-9c40-056b7124b258"> In der Regel wird die gebotene wissenschaftliche Unbefangenheit sehr radikal dahin verstanden, die Wissenschaft müsse strikt „wertfrei“ und „objektiv“ vorgehen. Gefordert ist eine Trennung der emotional befrachteten lebenspraktischen Wahrnehmung von der wissenschaftlichen Untersuchung. Letztere müsse von den Trübungen dieser Wahrnehmung gereinigt, rein „wertneutral“, also gleichsam auf einer kognitiven tabula rasa erfolgen. In den Naturwissenschaften erscheint diese Auffassung noch einigermaßen plausibel, obwohl auch die modernen Naturwissenschaften ihren fragwürdigen Rigorismus nicht mehr teilen48: Chemiker:innen, die eine unbekannte Reagenz auf ihre Bestandteile analysieren, mögen dabei von Neugier, Wissensdurst und Streben nach Reputation geplagt sein. Solange sie die Regeln der experimentellen Forschung einhalten, werden sie ungeachtet des eigenen möglichen Interesses an spektakulären Ergebnissen einigermaßen „wertneutral“ zu „objektiven“ Erkenntnissen gelangen.
4 Dies gilt für die Kriminalität so nicht. Sie ist nie reines Objekt, das unabhängig vom erkennenden Subjekt existiert und – nur deshalb und nur dann – in theoretischer Distanz streng „wertneutral“ analysiert werden könnte. Kriminalität ist ein gesellschaftlicher Gegenstand, an dem Forschende als gesellschaftliche Subjekte immer schon je spezifisch Anteil haben, und den sie aus ihrer je besonderen persönlichen Perspektive wahrnehmen. Eine völlige Befreiung von dieser Perspektive, die die Forschenden gleichsam auf einen fremden Stern versetzen und ihnen dadurch den objektiven Blick auf die Gesellschaft verschaffen würde, ist weder möglich noch zur Erlangung der gebotenen Unbefangenheit nötig. Strenge „Objektivität“ bedeutet die Illusion der Möglichkeit eines Blicks von Nirgendwo.49 Stattdessen geht es darum, angesichts der zwangsläufigen Eingebundenheit der Forschenden in eine spezifische Lebenspraxis, welche auch spezifische Vorstellungen über Kriminalität vermittelt, Unbefangenheit herzustellen: Es gilt, sich bei wissenschaftlichen Aussagen über Kriminalität die Subjektivität der eigenen lebenspraktischen Einstellung zu dem Thema reflexiv bewusst zu machen, sich so gut wie möglich davon im Erkenntnisvorgang zu distanzieren, sich für Deutungsmöglichkeiten zu öffnen, die von dem eigenen Vorstellungsbild abweichen, und quer zu antrainierten Mustern zu denken.
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[48] Kriminolog:innen gewinnen in dem Maße wissenschaftliche Unbefangenheit, wie es ihnen gelingt, die Selbstevidenz vertrauter Kriminalitätswahrnehmungen zu meiden, sich von routinemäßigen Denkhaltungen zu befreien und am gesellschaftlichen Diskurs über Kriminalität gleichsam wie irritierende Fremde teilzunehmen, welche Fragen stellen, auf die andere nicht kommen. So lässt sich die Wissenschaftlichkeit der Kriminologie in ähnlicher Weise bestimmen, wie Zygmunt Bauman (1925-2017) dies für die Soziologie tut. Damit distanziert sich dieses Verständnis wissenschaftlicher Unbefangenheit deutlich von dem Postulat des „wertfreien“ Erkennens.
„One could say that the main service the art of thinking sociologically may render to each and every one of us is to make us more sensitive; it may sharpen up our senses, open our eyes wider so that we can explore human conditions which thus far had remained all but invisible […] Sociological thinking is, one may say, a power in its own right, an antifixating power. It renders flexible again the world hitherto oppressive in its apparent fixity; it shows it as a world which could be different from what it is now. It can be argued that the art of sociological thinking tends to widen the scope, the daring and the practical effectiveness of your and my freedom. Once the art has been learned and mastered, the individual may well become just a bit less manipulable, more resilient to oppression and regulation from outside, more likely to resist being fixed by forces that claim to be irresistible.“50
6 Im Bemühen um eine objektive wissenschaftliche Erkenntnis wurde um die Jahrhundertwende von Anhänger:innen des sogenannten Logischen Empirismus die Auffassung vertreten, werturteilsbehaftete moralische Aussagen seien schlechthin unzulässig. Diese rigoros metaphysikfeindliche These wurde im Kritischen Rationalismus von Karl Popper (1902-1994) abgeschwächt. Aus der Einsicht, dass Forschende als Menschen zu einem gesellschaftlichen Forschungsgegenstand ein je spezifisches Verhältnis haben, das auch ihr Forschungsverhalten bestimmt, wurde abgeleitet, werturteilsbehaftete Aussagen seien Forschenden wie allen anderen sonst im politisch-moralischen Diskurs unbenommen, im Forschungsprozess haben sie sich ihrer aber zu enthalten. Das Problem, wie dies möglich sei, sucht Popper mit einer Analogie zum Kaffeetrinken zu lösen: Die notwendig auf eine subjektive Stellungnahme hinauslaufende Anteilnahme der Forschenden am gesellschaftlichen Forschungsgegenstand entfalte eine bloß anregende Wirkung wie der Kaffee, den der:die Chemiker:in vor Erstellen des Experiments genieße. Sofern nur die Forschung selbst nach dem Modell eines naturwissenschaftlichen Experiments durchgeführt [49] werde, seien deren Befunde objektiv gültig. Erst die Tilgung, oder besser: die Verleugnung der subjektiven Komponente macht die erfahrungswissenschaftliche Versuchsanordnung möglich:
„Jeder empirisch-wissenschaftliche Satz (muss) durch Angabe der Versuchsanordnung u. dgl. in einer Form vorgelegt werden, dass jeder, der die Technik des betreffenden Gebiets beherrscht, imstande ist, ihn nachzuprüfen.“51
7 Nach dem von Poppers Kritischem Rationalismus geprägten Wissenschaftsverständnis der objektivierenden empirischen Forschung muss man sich als Kriminolog:in von der eigenen persönlich-moralischen Werthaltung zur Kriminalität freimachen, muss sich auf die Aufstellung solcher Behauptungen („Hypothesen“) beschränken, die experimentell überprüfbar sind, d. h. an Erfahrungen scheitern können. Die Wahl eines bestimmten Wirklichkeitsausschnitts der Kriminalität – etwa Kriminalität als mögliches Ergebnis einer bestimmten biologischen Veranlagung oder einer bestimmten gesellschaftlichen Struktur – ist im Kritischen Rationalismus zwar Teil des unverbindlichen Entstehungszusammenhanges, in dem Forschende nach ihren persönlichen Neigungen ein ihnen anregend erscheinendes Thema wählen. Die Wissenschaftlichkeit ihres Vorgehens ergibt sich hingegen allein aus dem Begründungs- oder Rechtfertigungszusammenhang, in welchem die Beobachtungen und Schlussfolgerungen ohne subjektive Beimengung rein objektiv empirisch getestet und systematisch geprüft werden.
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Aber wie sollen ausgerechnet Kriminalität und Bestrafungsvorgänge, die doch eminente Leiden schaffen und heftiges Mitfühlen auslösen, völlig leiden-schaftslos studiert werden können? Die kriminologischen Untersuchungsgegenstände sind jedenfalls keine rein wertneutral zugänglichen Präparate unter dem Mikroskop der Forschenden, sondern Produkte menschlicher Handlung und Deutung, die die Forschenden interpretativ erschließen und auf die sie mit ihrer Forschung verändernd einwirken. Bereits die Wahrnehmung als erster Filter der empirischen Beschäftigung mit sinnlich erfassbaren Aspekten von Kriminalität ist vom Menschen als einem empathisch empfindenden Sozialwesen geprägt. Davor vermag auch das Bemühen um scheinbar „objektivierende“, menschliches Verhalten quasi naturwissenschaftlich erschließende Zugangswege nicht zu schützen. Zudem fließen bei der Wahl eines dem:der Forschenden unter den Nägeln brennenden Themas interindividuell unterschiedliche [50] Empfindungen und Assoziationen zum Kriminalitätsthema unvermeidlich mit ein (→ § 2 Rn 11).
„Der Unterschied zwischen Gesellschaft und Natur besteht darin, dass Natur nicht vom Menschen gemacht ist, nicht durch den Menschen erzeugt wurde. […] Die Gesellschaft […] ist nicht von einer einzelnen Person geschaffen worden, sie wird vielmehr (wenn auch nicht ex nihilo) durch die Teilnehmer eines jeden gesellschaftlichen Kontakts geschaffen und aufrechterhalten. Die Produktion der Gesellschaft ist eine auf Fertigkeiten beruhende, vom Menschen getragene und ,geschehen gemachte’ Leistung. Sie ist nur möglich, weil jedes (kompetente) Gesellschaftsmitglied ein praktischer Gesellschaftstheoretiker ist; bei jeder Art von Kontakt, den es unterhält, greift es normalerweise ungezwungen und routinemäßig auf sein Wissen und seine Theorien zurück, und der Gebrauch dieser praktischen Ressourcen ist genau die Bedingung für die Herstellung gesellschaftlicher Kontakte überhaupt. Solche Ressourcen […] sind als solche vom theoretischen Standpunkt der Sozialwissenschaftler nicht zu verbessern, sondern werden von diesen