Vertragsärztliche Zulassungsverfahren, eBook. Christian Wittmann

Vertragsärztliche Zulassungsverfahren, eBook - Christian Wittmann


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V) entgegenstehen und ob in Folge der Antragstellung Umstände eingetreten sind, die nicht mehr ohne weiteres rückgängig gemacht werden können.[68] Beides wurde für den Fall der Rücknahme des Antrags auf Durchführung des Nachbesetzungsverfahrens verneint.[69] Die Rücknahme des Antrags auf Durchführung des Nachbesetzungsverfahrens führt in solchen Fällen zur Erledigung des stattgebenden Beschlusses gemäß § 103 Abs. 3a S. 1 SGB V.[70]

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      Gemäß § 103 Abs. 3a S. 1 SGB V ergeht vor dem Auswahlverfahren zunächst die Entscheidung über die Durchführung des Nachbesetzungsverfahrens.[71] Umstritten ist, ob nach einem die Durchführung des Nachbesetzungsverfahrens ablehnenden Beschluss des Zulassungsausschusses noch eine Antragsrücknahme möglich ist, mit der Folge der Beendigung des Nachbesetzungsverfahrens.[72] Dies wird teilweise mit dem Argument abgelehnt, der Beschluss über die Durchführung des Nachbesetzungsverfahrens entfalte Außenwirkung auch gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung und den Landesverbänden der Krankenkassen und Ersatzkassen, so dass eine Antragsrücknahme ab Bekanntgabe der Entscheidung nicht mehr möglich sei.[73] In einem obiter dictum hat sich das BSG zu der Frage der Rücknehmbarkeit des Nachbesetzungsantrags nach Ablehnung der Durchführung eines Nachbesetzungsverfahrens gemäß § 103 Abs. 3a SGB V geäußert. Es beantwortet diese Frage aus systematischen Gründen nicht anders als die Frage, ob der Zulassungsverzicht unter die Bedingung einer erfolgreichen und bestandskräftigen Zulassung eines Nachfolgers gestellt werden kann. Der Antragsteller kann daher bis zum Eintritt von Bestandskraft der Entscheidung des Zulassungsausschusses gegen die Nachbesetzung (§ 103 Abs. 3a SGB V) den Nachbesetzungsantrag zurücknehmen.[74]

b) Untersuchungsgrundsatz (§ 39 Abs. 1 Ärzte-ZV, § 20 SGB X)

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      Im Verfahren vor den Zulassungsgremien gilt der Untersuchungsgrundsatz (§ 20 SGB X). § 39 Abs. 1 Ärzte-ZV greift einen Teilaspekt (die Beweiserhebung) heraus und schränkt die Geltung der §§ 20 bis 22 SGB X nicht ein.[75] Der Zulassungsausschuss hat den entscheidungsrelevanten Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln.[76] Er bestimmt – unter Beachtung der Vorgaben der Rechtsprechung[77] – Art und Umfang der Ermittlungen selbst und ist an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (§ 20 Abs. 1 SGB X).[78] Er darf aber nicht einseitig ermitteln, sondern hat alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch die für die Beteiligten günstigen Umstände zu berücksichtigten. Die Entgegennahme von Erklärungen oder Anträgen darf der Zulassungsausschuss nicht deshalb verweigern, weil er die Erklärung oder den Antrag in der Sache für unzulässig oder unbegründet hält (§ 20 SGB X). Die möglichst vollständige und zutreffende Sachaufklärung ist unverzichtbare Voraussetzung korrekter Rechtsanwendung. Die Zulassungsgremien müssen von allen Ermittlungsmöglichkeiten Gebrauch machen, die ihnen vernünftigerweise zur Verfügung stehen.[79]

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      Eine umfassende Sachverhaltsaufklärung wird bereits durch den in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns vorgegeben. Das Gebot der vollständigen und zutreffenden Sachaufklärung steht aber oftmals im Widerspruch zu anderen Verfahrensprinzipien, etwa dem Beschleunigungs- und Vereinfachungsgebot, dem Transparenzgebot und dem Datenschutz. Die Zulassungsgremien müssen diese Belange im Rahmen des ihnen zustehenden Verfahrensermessens soweit wie möglich in Einklang bringen.[80] Ziel der Sachaufklärung ist die „vollständige“, d.h. bei den gegebenen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen mögliche und erreichbare Sachaufklärung. Zu ermitteln sind nur die unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Spruchkörpers entscheidungserheblichen Tatsachen.[81] Um herauszufinden, welche Tatsachen entscheidungserheblich sind, können bestimmte Angaben der Beteiligten als wahr unterstellt werden. Ändert sich die Entscheidung nicht, unabhängig davon, ob man die Tatsachen als wahr oder unwahr unterstellt, so muss diesbezüglich keine weitere Aufklärung erfolgen.[82] In Verfahren in denen die Zulassungsgremien auf Antrag tätig werden, dürfen sie die vom Antragsteller vorgetragenen Tatsachen zugrunde legen, soweit es sich dabei um typische Lebenssachverhalte handelt und keine konkreten Anhaltspunkte vorliegen, die eine besondere Einzelfallprüfung erfordern.[83]

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      Der Untersuchungsgrundsatz findet seine Grenze dort, wo eine weitere Aufklärung des Sachverhalts ohne eine Mitwirkung des Betroffenen unmöglich ist.[84] Eine Mitwirkungspflicht besteht von Gesetzes wegen nicht. § 21 Abs. 2 S. 1 SGB X statuiert lediglich eine Mitwirkungslast (Soll-Vorschrift), so dass die Mitwirkung nicht erzwungen werden kann. Dies gilt gemäß § 21 Abs. 2 S. 3 SGB X auch für das persönliche Erscheinen und die Aussagebereitschaft, weswegen aus dem Nichterscheinen und/oder der Weigerung, eine Äußerung abzugeben, keine negativen Schlussfolgerungen gezogen werden dürfen.[85] Allerdings kann eine durch die fehlende Mitwirkung verursachte fehlende oder mangelhafte Sachverhaltsaufklärung bei der Beweiswürdigung zu Lasten des Beteiligten berücksichtigt werden, soweit die materielle Beweislast beim Beteiligten liegt.[86] Im Verwaltungsrecht werden verschiedene denkbare Reaktionen diskutiert, etwa das Zurückstellen bzw. die weitere Bearbeitung eines Antrags,[87] die Fiktion einer Antragsrücknahme,[88] die nachteilige Beweiswürdigung,[89] die Annahme eines Mitverschuldens[90] und die Nichterhebung angebotener Beweise.[91]

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      Zur Amtsermittlung kann sich der Zulassungsausschuss der Beweismittel bedienen, die er nach pflichtgemäßen Ermessen zur Ermittlung des Sachverhalts für erforderlich hält (§§ 39 Abs. 1 Ärzte-ZV, 21 Abs. 1 S. 1 SGB X).[92] Er kann insbesondere Auskünfte jeder Art einholen, Beteiligte anhören, Zeugen und Sachverständige vernehmen, schriftliche oder elektronische Äußerungen dieser Personen anfordern, Urkunden und Akten beiziehen sowie den Augenschein einnehmen. Diese Handlungsmöglichkeiten sind nicht abschließend, immer jedoch darf sich die Tatsachenermittlung nur auf die beweisbedürftigen und entscheidungserheblichen Tatsachen beziehen.[93]

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      Die teilweise vertretene Ansicht, im Verfahren vor den Zulassungsgremien bedürfe es nicht der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme,[94] ist abzulehnen. Das Unmittelbarkeitsprinzip umfasst zwei Aspekte, zum einen die materielle Unmittelbarkeit, d.h. den Vorrang des sachnäheren Beweismittels,[95] und zum anderen die formelle Unmittelbarkeit, d.h. das Gebot der Beweisaufnahme unmittelbar durch die für die Entscheidung zuständigen Personen.[96] Der eingangs zitierten Ansicht ist zuzugeben, dass sich der Ärzte-ZV und dem SGB X kein Vorrang des sachnäheren Beweismittels entnehmen lässt.[97] Unrichtig wäre aber die Behauptung, die Mitglieder der Zulassungsgremien müssten sich nicht selbst (unmittelbar) ein Bild von den Beweismitteln machen. Jedes Mitglied des Zulassungsausschusses (gleiches gilt für den Berufungsausschuss) erhält von jedem Aktenstück eine Kopie. In der Sitzung hat jedes Mitglied somit unmittelbaren Zugang zu allen entscheidungsrelevanten Aktenstücken. Da Beschlüsse der Zulassungsgremien gemäß § 36 Abs. 1 S. 1 Ärzte-ZV nur in Sitzungen gefasst werden können und die Beweiserhebung durch „den Zulassungsausschuss“ – also nicht durch einzelne Mitglieder oder Dritte – erfolgt (§ 39 Abs. 1 Ärzte-ZV), können und müssen auch bspw. Zeugenaussagen nur unmittelbar vor allen Mitgliedern der Zulassungsgremien (bzw. des nach § 22 SGB X ersuchten Gerichts) erfolgen. Das Sitzungsprinzip führt zu einem von §§ 20, 21 SGB X abweichenden Beweiserhebungsverfahren. Es gilt also im Verfahren vor den Zulassungsgremien ein formelles Unmittelbarkeitsprinzip, nicht aber ein strenges Mündlichkeitsprinzip.[98]

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      Sofern die Zulassungsgremien gemäß § 21 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB X Zeugen laden, besteht für diese weder eine Pflicht zu erscheinen, noch eine Pflicht zur Aussage, soweit dies nicht durch Rechtsvorschrift ausdrücklich vorgesehen ist (§ 21 Abs. 3 S. 1 SGB X). Entgegen der in Rechtsprechung und Literatur teilweise vertretenen Auffassung reicht § 39 Abs. 1 Ärzte-ZV, der lediglich den Grundsatz des Freibeweises normiert,[99] hierfür nicht aus.[100] Die im Falle der Aussageverweigerung in Betracht kommenden Zwangsmittel[101] machen eine ausdrückliche Regelung der Aussagepflicht erforderlich. Eine solche ausdrückliche Regelung stellt § 39 Abs. 1 Ärzte-ZV nicht dar. Dies zeigt ein Vergleich mit § 21 SGB X. Auch dort


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