Handbuch des Verwaltungsrechts. Группа авторов

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sieht – obwohl dies möglich wäre[284] – keinen Geltungsvorrang des Unionsrechts vor. Dies führt vor dem Hintergrund des (politischen) Interesses an der Wahrung der mitgliedstaatlichen Souveränität[285] und an der Vermeidung einer Anerkennung einer hierarchischen Unterordnung des mitgliedstaatlichen unter das Unionsrecht zur einhelligen Auffassung der Annahme eines Anwendungsvorrangs: Läuft mitgliedstaatliches Recht dem Unionsrecht zuwider, so wird es nicht derogiert, sondern suspendiert. Unterschiedlich beantwortet wird, ob diese Rechtsfolge der Unanwendbarkeit erst im Einzelfall[286] oder abstrakt für die betreffende Rechtsnorm eintritt[287]. Jedenfalls hat sie im konkreten Fall außer Anwendung zu bleiben. In der Sache führt der Anwendungsvorrang regelmäßig zum selben Ergebnis wie ein Geltungsvorrang,[288] „schonender“ ist er regelmäßig nur für die „nationale Empfindlichkeit“[289]. Ein Unterschied liegt aber in der fehlenden Endgültigkeit: Mitgliedstaatliches Recht lebt wieder auf, sofern und soweit die Kollisionslage wegfällt,[290] was allerdings selten praktisch relevant werden dürfte.[291] Wichtiger ist daher, dass der Anwendungsvorrang die Wirksamkeit des mitgliedstaatlichen Rechts erhält. Dieses bleibt vollumfänglich anwendbar, wo der Anwendungsbereich des Unionsrechts nicht eröffnet ist.[292] Bei einem Geltungsvorrang wäre eine solche „Teilwirksamkeit“ einer Norm für den nicht unionsrechtlich überlagerten Bereich nicht in allen Konstellationen denkbar.

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      Effektivitätsgebot als Prüfstein

      Bei indirekten Kollisionen wird teilweise vertreten, dass hier bloße Rahmenbedingungen unionsrechtlich vorgegeben seien, sodass ein strikter Vorrang nicht bestehe[293] oder jedenfalls der Vorrang zum abwägungsfähigen Prinzip werde und die effektive Umsetzung des Unionsrechts mit der nationalen Bestimmung im Wege praktischer Konkordanz in einen schonenden Ausgleich gebracht werden müsse.[294] Tatsächlich geht der EuGH hier maßgeblich vom Effektivitätsgrundsatz als Schranke der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie (Art. 291 Abs. 1 AEUV)[295] aus,[296] bemisst die nationale Regelung also danach, ob und inwieweit sie einer effektiven Umsetzung von Unionsrecht entgegensteht.[297] Dieser Ausgangspunkt ändert aber nichts daran, dass in der Sache dem Unionsrecht vollumfänglich Vorrang einzuräumen ist.[298] Gleichwohl ist zu berücksichtigen, dass dies im Falle indirekter Kollisionen regelmäßig nicht mit der bloßen Nichtanwendung des nationalen Rechts einhergeht. Vielmehr ist das nationale Recht häufig gerade notwendig, um das Unionsrecht überhaupt zu vollziehen, muss aber entsprechend modifiziert werden.

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      Unanwendbarkeit als unions rechtliche Modifikation

      Untergesetzliche Normen sind nach überkommener Doktrin im Falle ihrer Rechtswidrigkeit grundsätzlich nichtig.[299] Entsprechend wird auch im Fall der gerichtlichen Verwerfung im Rahmen einer Normenkontrolle ihre Ungültigkeit und damit Nichtigkeit festgestellt (vgl. § 47 Abs. 5 S. 2 VwGO). Dabei ist auch das Unionsrecht Prüfungsmaßstab.[300] Problematisch erscheint, ob auch der Fall der Verdrängung einer Norm kraft Anwendungsvorrangs als Fall der Verwerfung wegen Rechtswidrigkeit gelten muss. Dies ist zu bejahen; als Rechtsfolge ist jedoch nicht die Nichtigkeit, sondern die bloße Unanwendbarkeit der unionsrechtswidrigen Norm auszusprechen.[301]

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      Durchbrechung der Bestandskraft als Ausnahme

      Für Verwaltungsakte ist die Durchsetzung des Anwendungsvorrangs problematisch, soweit sie in Bestandskraft erwachsen sind und damit der Vorrang die Rechtssicherheit auf die Probe stellt. Der EuGH betonte hier zunächst, dass auch gegenüber bestandskräftigen Verwaltungsakten von einem Vorrang des materiellen Rechts auszugehen sei,[302] verneint allerdings zugleich ausdrücklich, dass daraus stets eine Pflicht folge, bestandskräftige belastende Verwaltungsakte aufzuheben, soweit diese unionsrechtswidrig sind.[303] Denn Rechtssicherheit und Vertrauensschutz sind im Unionsrecht anerkannte allgemeine Rechtsgrundsätze. Nach der in der Rechtssache Kühne & Heitz begründeten und später weiter ausdifferenzierten Rechtsprechung kann eine Verpflichtung der zuständigen Behörde zur Überprüfung eines bestandskräftigen Verwaltungsakts allerdings ausnahmsweise bestehen, wenn (1.) die Behörde zur Aufhebung des Verwaltungsakts befugt ist, (2.) der Verwaltungsakt auf Grundlage eines letztinstanzlichen Urteils bestandskräftig geworden ist, wobei das entscheidende Gericht das Unionsrecht fehlerhaft ausgelegt hat und von der Möglichkeit zur Vorlage an den EuGH (Art. 267 Abs. 3 AEUV) keinen Gebrauch gemacht hat, und (3.) die Adressatin bzw. der Adressat sich wegen der Überprüfung fristgemäß[304] an die zuständige Behörde gewandt hat, nachdem sie bzw. er Kenntnis von einer der nationalen Entscheidung widersprechenden Entscheidung des EuGH erlangt hat.[305] Im deutschen Recht kann dieser Verpflichtung durch ein Wiederaufgreifen des Verfahrens im weiten Sinne gemäß § 51 Abs. 5 i. V. m. § 48 VwVfG Rechnung getragen werden. Allein insoweit reicht allerdings die unionsrechtliche Überprüfungsverpflichtung, das behördliche Rücknahmeermessen bleibt hingegen grundsätzlich bestehen.[306]

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      Parallele: Rechtskraft von Urteilen

      Eine ähnliche Rechtsfrage tritt im Hinblick auf rechtskräftige Urteile auf. Der EuGH betont insoweit, dass die Modalitäten der Rechtskraft der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten unterfallen und daher nur an den Maßstäben der Äquivalenz und Effektivität gemessen werden können.[307] Insbesondere der Grundsatz der effektiven Umsetzung des Unionsrechts kann im Einzelfall (vor allem im Beihilferecht zur Sicherung eines unverfälschten Wettbewerbs und zur Wahrung der Kompetenz der Kommission als Hüterin des Beihilfeaufsichtsverfahrens) ausnahmsweise die Durchbrechung der nach nationalem Recht angeordneten Rechtskraft gebieten.[308] Grundsätzlich verlangt er eine solche Durchbrechung allerdings nicht, da die Rechtssicherheit auch ein Grundsatz des Unionsrechts ist.[309]

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      Fortbestehende Umsetzungsverpflichtung

      Eine aus dem Vorrang resultierende Unanwendbarkeit unionsrechtswidriger Rechtsakte entbindet den nationalen Gesetzgeber nicht von der allgemein aus Art. 4 Abs. 3 EUV und bei Richtlinien speziell aus Art. 288 Abs. 3 AEUV folgenden[310] Pflicht, seine Rechtslage unionsrechtskonform anzupassen.[311] Nur so können Unklarheiten beseitigt und der Rechtssicherheit hinreichend Rechnung getragen werden.[312] Die Unanwendbarkeitsdoktrin stößt ferner an ihre Grenzen, wenn zwar kein unionsrechtswidriges nationales Recht besteht, aber ein Mitgliedstaat Unionsrecht nicht oder nicht hinreichend umgesetzt hat. In solchen Fällen tritt das Unionsrecht an die Stelle nationalen Rechts, auch dies entbindet aber nicht von der Umsetzungsverpflichtung.

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      Zwingende Erfordernisse

      In bestimmten Konstellationen stellt sich die Frage einer zeitlich beschränkten Weitergeltung unionsrechtswidrigen nationalen Rechts. Dies ließe sich – insbesondere zur Gewähr von Rechtssicherheit sowie des Schutzes öffentlicher Interessen – etwa annehmen, wenn eine Unanwendbarkeit zu einem Zustand führte, der von dem von der Unionsrechtsordnung vorgesehenen Zustand noch weiter entfernt wäre[313], wenn also durch die Nichtanwendung eine „inakzeptable Gesetzeslücke“ entstünde.[314] Der EuGH drängt in dieser unionsrechtlich zu entscheidenden[315] Frage zuvörderst darauf, dass die nationalen Gerichte – etwa in Form von Richterrecht – Lösungen finden, die einen Vorrang des Unionsrechts durchsetzen, ohne zugleich das öffentliche Interesse am Fortbestand einer Regelung übermäßig einzuschränken.[316] Scheidet dies aus, hat der EuGH die vorübergehende Anwendung unionsrechtswidrigen Rechts bis zur Schaffung einer unionsrechtskonformen Rechtslage nicht kategorisch ausgeschlossen,


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