Handbuch des Verwaltungsrechts. Группа авторов
und geteilte Zuständigkeiten
Im Hinblick auf mitgliedstaatliche Regelungen wird allerdings teilweise angenommen, dass diese ohne Kompetenzgrundlage erlassen und damit ungültig sind, wenn sie in einen Bereich ausschließlicher (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 3 AEUV) oder geteilter (konkurrierender) (Art. 2 Abs. 2 i. V. m. Art. 4 Abs. 1 und 2 AEUV) Zuständigkeit der Union fallen, sofern und soweit die Union von dieser Kompetenz abschließend Gebrauch gemacht hat.[111] Richtig ist, dass den Unionskompetenzen insoweit – für die ausschließlichen Zuständigkeiten – per se[112] bzw. – für die geteilten Zuständigkeiten – jedenfalls durch ihre Inanspruchnahme eine Sperrwirkung beizumessen ist. Richtigerweise hat jedoch auch in diesem Bereich keine mit einer Kompetenzaufgabe verbundene, echte Kompetenzübertragung der Mitgliedstaaten stattgefunden,[113] sodass die Gültigkeit des nationalen Rechts unberührt bleibt.[114] Auf dieser Grundlage erlassene Rechtsnormen werden jedoch abstrakt – unabhängig von einem inhaltlichen Widerspruch im Einzelnen – unanwendbar.[115] Man kann insoweit von einem kompetenzhierarchischen[116] oder bereichsspezifischen Vorrang sprechen.
2. Unmittelbare Anwendbarkeit
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Unmittelbare Anwendbarkeit als Vorrangvoraussetzung
Überwiegend wird angenommen, dass nur unmittelbar anwendbares Unionsrecht einen Vorrang auslösen könne, da nur dort überhaupt eine Normkollision auftrete.[117] Auch der EuGH hat zuletzt explizit betont, dass eine Norm, die nicht unmittelbar anwendbar ist, nicht zum Ausschluss der Anwendbarkeit einer zuwiderlaufenden nationalen Bestimmung führen könne.[118] Richtigerweise ist zu differenzieren: Relevant wird die unmittelbare Anwendbarkeit bei der Wirkung des Vorrangs. Soll eine unionsrechtliche Norm eine nationale Norm ersetzen oder ihre Anwendung ausschließen (Vorrang im engeren Sinne), so muss sie dazu objektiv unmittelbar anwendbar sein. Keine Voraussetzung ist die unmittelbare Anwendbarkeit hingegen, soweit man auch sonstige Rechtswirkungen einem Vorrang im weiten Sinne[119] zuordnet: So besteht insbesondere die Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts unabhängig von der unmittelbaren Anwendbarkeit,[120] etwa in horizontalen Verhältnissen.[121]
a) Kompetenzkollisionen
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Bereichsspezifischer Vorrang
Ein erster Anwendungsfall des Vorrangs des Unionsrechts wurde bereits als bereichsspezifischer Vorrang beschrieben: Im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeiten sowie im Bereich der geteilten Zuständigkeit, soweit die Union eine abschließende Regelung getroffen hat, löst dies für den gesamten Sachbereich einen Vorrang des Unionsrechts aus. Auf die konkrete inhaltliche Unvereinbarkeit kommt es nicht weiter an.[122]
b) Direkte und indirekte Kollisionen
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Direkte und indirekte Kollisionen
Darüber hinaus greift die Kollisionsregel des Vorrangs Platz, wenn durch zwei Normen für denselben Sachverhalt unterschiedliche Rechtsfolgen angeordnet werden.[123] Unterscheiden lässt sich dabei zwischen direkten (unmittelbaren) und indirekten (mittelbaren) Kollisionen:[124] Bei ersteren ordnen Unions- und mitgliedstaatliches Recht für denselben Regelungsgegenstand nicht miteinander vereinbare Rechtsfolgen an.[125] Bei einer indirekten Kollision regeln die Rechtsordnungen hingegen zunächst unterschiedliche Fragen.[126] Durch die Anwendung der mitgliedstaatlichen Regelung(en) wird jedoch zumindest mittelbar die vollumfängliche Realisierung des Unionsrechts behindert.[127] Typisches Beispiel hierfür sind Konstellationen, in denen nationale Verfahrens- oder Prozessvorschriften einer effektiven Umsetzung unionalen Sachrechts entgegenstehen.
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Ubiquitäres Phänomen
Insgesamt treten direkte wie auch indirekte Kollisionen vergleichsweise oft auf. Dies liegt darin begründet, dass zum einen die Kompetenzverteilung nicht trennscharf ist.[128] Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass die Union inkrementell in ihre Rolle als Rechtsetzerin hineinwächst und damit beim Neuerlass häufig bereits bestehende nationale Regelungskonzepte vorfindet. Schließlich ist zu bedenken, dass die EU teilweise andere Regelungskonzeptionen und andere Regelungsziele verfolgt, wodurch stärkere Friktionen bestehen als bei einer allein nationalen, auf den Grundsatz der Widerspruchsfreiheit ausgerichteten Rechtsentwicklung.
II. Inhalt
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Sachliche Dimension
Das Vorrangprinzip gilt universell, das heißt im Hinblick auf das gesamte Unionsrecht jedweder Rangstufe[129] sowie – nach Aufgabe der früheren Drei-Säulen-Struktur durch den Vertrag von Lissabon – grundsätzlich auch für die Bereiche der Polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS)[130] und der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)[131]. Im Hinblick auf das mitgliedstaatliche Recht gilt der Vorrang unabhängig einerseits von der Rechtsnatur und der normenhierarchischen Stellung eines Rechtsakts.[132] Andererseits ist auch der konkrete Inhalt des mitgliedstaatlichen Rechtsakts irrelevant. Der lex specialis-Grundsatz findet keine Anwendung.[133] Aus unionsrechtlicher Sicht für den Vorrang grundsätzlich unschädlich ist daher auch, wenn der mitgliedstaatliche Rechtsakt einen höheren (grund-)rechtlichen Schutzstandard gewährleistet.[134]
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Zeitliche Dimension
Daneben gilt der Vorrang des Unionsrechts auch in zeitlicher Hinsicht absolut. Die lex posterior-Regelung findet als Kollisionsnorm keine Anwendung. Auch später erlassenes nationales Recht unterfällt damit dem Primat des Unionsrechts.[135]
III. Adressaten
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Umfassende Bindung der Mitglied staaten
Der Vorrang ist an alle mitgliedstaatlichen Stellen adressiert,[136] sowohl an die Bundes- und Landesgesetzgeber und die Gerichte als auch an die Exekutive und die Gubernative.
a) Absoluter Vorrang des Unionsrechts
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Absoluter Vorranganspruch
Die EU nimmt für ihre eigene Rechtsordnung einen absoluten, umfassenden und unbegrenzten Vorrang vor dem mitgliedstaatlichen Recht in Anspruch. So kommt etwa auch unionsrechtlichem Sekundärrecht Vorrang vor mitgliedstaatlichen Verfassungsbestimmungen zu.[137] Diese Position hat der EuGH wohl schon im Urteil van Gend & Loos, im Anschluss an die Rechtsauffassung der Kommission, vertreten.[138] Allerdings bestand erst im Urteil Costa/ENEL[139], dem „inneren Selbstgründungsakt“[140] der EU (bzw. früheren EWG/EG), die Notwendigkeit, diese Position auch explizit zu machen.
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Effektivität als Begründungsfolie
Der EuGH reagierte mit diesem Akt beherzter Rechtsfortbildung[141] auf ein bis dahin erhebliches Umsetzungsdefizit des europäischen Rechts.[142] Zur Begründung verweist er darauf, dass die Mitgliedstaaten durch ihre Zustimmung zu den Europäischen Verträgen einen Teil ihrer Hoheitsrechte an die Union übertragen und eine eigene, autonome Rechtsordnung begründet haben.[143] Diese Unabgeleitetheit der Unionsrechtsordnung mag notwendige Bedingung für einen Vorranganspruch sein, hinreichend ist sie jedoch nicht.[144] Für Verordnungen verweist der EuGH weiter auf den heutigen Art. 288 Abs. 2 EUV und die dort angeordnete „allgemeine Geltung“.[145] Abseits von Verordnungen verbleibt zur Begründung aber allein der Verweis des EuGH darauf, dass nur ein einheitlicher Vorrang die Funktionsfähigkeit der Union, die gleichmäßige Umsetzung in allen Mitgliedstaaten und damit auch die „Gleichheit vor