Handbuch des Verwaltungsrechts. Группа авторов

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Vergessen I und II

      Der Vorbehalt bleibt auch dann unverändert bestehen, wenn das BVerfG im Hinblick auf unionsrechtlich vollständig determiniertes Handeln deutscher Organe nunmehr selbst eine Kontrolle anhand der Unionsgrundrechte vornimmt („Recht auf Vergessen II“)[190] und sich im Rahmen der Überprüfung einer Anwendung gestaltungsoffenen Unionsrechts jedenfalls eine subsidiäre Prüfung anhand der Unionsgrundrechte vorbehält („Recht auf Vergessen I“).[191] Diese Erweiterung des Prüfungsmaßstabs ist im Hinblick auf die Instanzgerichte und andere Verfassungsgerichte[192] keine umstürzende Neuerung. Sie wird aber tendenziell weg von einer Separierung hin zu einer materiellen Annäherung (Konvergenz) deutschen und europäischen Grundrechtsschutzes führen[193] und hebt die Integration des Unionsrechts in die deutsche Rechtsordnung im Sinne der Kooperations- bzw. Verbundidee auf ein nächstes Level. Das ist begrüßenswert,[194] weil es nicht nur die Rolle des BVerfG als relevanten „Player“ im europäischen Verfassungsgerichtsverbund[195] sichern und stärken[196] hilft, sondern ein solches „Grundrechts-Mobile“[197] vor dem Hintergrund der zunehmenden Verflechtungsprozesse im Grundrechtsverbund auch funktionsadäquater und zeitgemäßer ist. Wichtig ist freilich die konsequente Einhaltung der Vorlagepflicht des BVerfG (Art. 267 Abs. 3 AEUV).[198]

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      Identitätskontrolle

      Anlässlich des Vorbehalts des Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG überprüft das BVerfG unionsrechtlich determinierte nationale Vollzugsakte,[199] die Übertragung von Hoheitsrechten durch den deutschen Gesetzgeber sowie unmittelbar Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und Stellen der EU[200] auf ihre Vereinbarkeit mit den von der grundgesetzlichen Ewigkeitsgarantie umfassten Bereichen. Nach Auffassung des BVerfG ist jede Kompetenzübertragung und -ausübung letztlich durch diese Integrationsschranke konditioniert.[201] Ausprägungen der qua Art. 79 Abs. 3 GG unübertragbaren Verfassungsidentität sind dabei neben der Menschenwürde[202], auch im Sinne des Menschenwürdekerns anderer Grundrechte,[203] etwa die im Demokratieprinzip angelegte Bewahrung der Eigenstaatlichkeit, inklusive der Bewahrung eigener Aufgaben und Befugnisse von substantiellem politischen Gewicht,[204] sowie die Budgethoheit[205]. Bei der vorzunehmenden Einzelfallkontrolle erlegt sich das BVerfG Zurückhaltung auf, indem es sich – „soweit erforderlich“[206] – zur Vorlage an den EuGH verpflichtet.[207]

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      Kritik und Antikritik

      Etwas missverständlich bzw. zu weitgehend ist allerdings der Verweis, verfassungs- (Art. 79 Abs. 3 GG) und unionsrechtliche (Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV) Gewährleistung der nationalen Verfassungsidentität gingen „Hand in Hand“[208]. Die Normen stehen zwar in einem funktionalen Korrelat- bzw. Supplementärverhältnis, sind in ihrem Inhalt aber nicht deckungsgleich.[209] Dies führt zu der Kritik, dass die EU durch die Identitätskontrolle letztlich sachwidrig an Art. 79 Abs. 3 GG gebunden werde.[210] Dabei darf aber nicht übersehen werden: Nicht die genuine Rechtswidrigkeit und Ungültigkeit des identitätseingreifenden Unionshandelns wird behauptet, sondern die fehlende Legitimation für Geltung und Vorrang in der deutschen Rechtsordnung.

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      Ultra-vires-Kontrolle

      Neben die Grenze des Übertragbaren tritt die Grenze des Übertragenen: Demokratische Legitimation als unabdingbare Voraussetzung von Geltung, unmittelbarer Anwendbarkeit und Vorrang besteht nur, soweit Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, einschließlich der Entscheidungen des EuGH, aufgrund und innerhalb der der EU übertragenen Hoheitsrechte erfolgen. Insoweit ist einerseits zu kontrollieren, ob das Zustimmungsgesetz selbst die formellen Anforderungen an eine Hoheitsrechtsübertragung wahrt.[211] Andererseits werden – vermittelt durch das deutsche Zustimmungsgesetz – das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, das Subsidiaritätsprinzip und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Art. 5 Abs. 1–4 EUV) zur inkorporierten verfassungsrechtlichen Grenze europäischer Kompetenzausübung.[212] Das BVerfG misst sich dabei selbst die Kompetenz zur Überprüfung der Einhaltung dieser Maßstäbe zu und effektuiert diese durch eine – zuletzt ebenfalls auf Art. 79 Abs. 3 GG zurückgeführte[213] – Ultra-vires-Kontrolle.[214]

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      Europarechtsfreundliche Einschränkungen

      Eine detaillierte nationale Letztkontrolle der Einhaltung primärrechtlicher Kompetenzen birgt freilich die Gefahr, die durch die Zustimmung zu den Verträgen anerkannte Auslegungshoheit des EuGH und damit die europäische Rechtseinheit zu unterminieren.[215] Dies mag ein Beweggrund für das BVerfG sein, sich auch insoweit Zurückhaltung aufzuerlegen. Das Gericht betont das Gebot der europarechtsfreundlichen Ausübung dieser Kontrolle[216], verpflichtet sich zu einer Vorlage an den EuGH nach Art. 267 AEUV und will insbesondere nur bei einem „hinreichend qualifizierten“ Verstoß eine Überschreitung der Unionskompetenzen annehmen.[217] Das setze voraus, dass die Kompetenzwidrigkeit des Unionshandelns offensichtlich ist und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung im Kompetenzgefüge führt.[218] Damit öffnet das Gericht letztlich Raum für eine Abwägung.[219] Das BVerfG räumt dem EuGH dabei sogar einen Anspruch auf „Fehlertoleranz“[220] ein. Dies ist nicht unproblematisch. Zum einen gibt es in Wertungsfragen keine absolute Richtigkeit (über die zudem das BVerfG befinden würde).[221] Zum anderen sind (noch) zulässige Kompetenzüberschreitungen logisch ausgeschlossen.[222] Vorzugswürdig ist daher eine Überprüfung, ob die von der Union vorgenommene Auslegung, etwa einer Kompetenzbestimmung, methodisch noch vertretbar ist.[223] Dies hat das BVerfG in seinem aufsehenerregenden PSPP-Urteil zuletzt erstmals verneint.[224] Die Europäische Kommission hat daraufhin ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland mit der Begründung eingeleitet, dass das BVerfG einem Urteil des EuGH seine Rechtswirkung abgesprochen und damit gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen habe.

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      Grundsätzliche Anerkennung des Vorrangs

      Der Vorrang des Unionsrechts wird jedenfalls im Hinblick auf unterverfassungsrechtliches Recht in allen Mitgliedstaaten anerkannt.[225] Dies vermag insoweit kaum zu überraschen, als mit Ausnahme der sechs Gründungsmitglieder alle Mitgliedstaaten schon bei ihrer Entscheidung zum EU-Beitritt von dem Vorranganspruch der Union als Teil des acquis communautaire ausgehen mussten.[226] In einigen mitgliedstaatlichen Verfassungen wird dieser Vorrang explizit geregelt.[227] Zumeist aber wird die Akzeptanz des Vorrangs implizit auf eine verfassungsrechtliche Regelung gestützt, die die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU als supranationale Organisation ermöglicht.[228]

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      Divergierende Ansichten

      Unterschiede ergeben sich allerdings im Hinblick auf den Vorrang des Unionsrechts gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht. In einigen Mitgliedstaaten wird die Auffassung der Union, dass dem Unionsrecht auch gegenüber dem Verfassungsrecht im Kollisionsfall Vorrang zukommt, vollumfänglich geteilt. Dies gilt für die Niederlande[229], daneben etwa auch – kraft spezifischer Verfassungsbestimmung – in Zypern[230] und – mit zunehmenden Vorbehalten – in Estland.[231] Demgegenüber betonen Mitgliedstaaten wie Litauen und Polen zwar ausdrücklich, dass sie soweit als möglich eine unionsrechtskonforme Lösung anstreben. Aufgrund des explizit normierten, umfassenden Vorrangs der litauischen (Art. 7) und der polnischen (Art. 8 Abs. 1) Verfassung dürfte hier jedoch im Konfliktfall der Verfassung Vorrang eingeräumt werden.[232]

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      Mittelweg: Residualkompetenzen für besondere Verfassungsinhalte

      Die meisten Mitgliedstaaten verfolgen einen Mittelweg. Bei Anerkennung eines grundsätzlichen Vorrangs der Unionsrechtsordnung schließen sie einen Kernbereich ihrer Verfassungsordnung davon aus und nehmen – vielfach unter Rezeption der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung[233] – insoweit (verfassungs-)gerichtlich wahrgenommene Kontrollkompetenzen in Anspruch. So zählen etwa parallel zur deutschen Solange-II-Rechtsprechung in Italien[234] und Tschechien[235] die „unveräußerlichen Menschenrechte“ zum Vorbehalt, anhand derer eine Kontrolle von Unionsrechtsakten praktiziert wird. Daneben machen zahlreiche


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