Handbuch des Verwaltungsrechts. Группа авторов
Unionsrechts im innerstaatlichen Bereich daraus, dass durch das auf Grundlage der verfassungsrechtlichen Integrationsermächtigung des Art. 23 Abs. 1 GG[15] ergehende Zustimmungsgesetz zu den EU-Verträgen[16] nicht ausdrücklich, aber implizit[17] ein nationaler Rechtsanwendungsbefehl erteilt wird, der eine „Brücke“[18] für das supranationale Recht bildet und ihm – innerhalb des durch das Zustimmungsgesetz abgesteckten Integrationsprogramms – Geltung in der deutschen Rechtsordnung verschafft.[19] Das nationale Integrationsgesetz wird somit zum konstitutiven Geltungsgrund des Unionsrechts in Deutschland.[20] Dabei soll die einmalige Zustimmung zu den Europäischen Verträgen auch für die Geltung aller daraus resultierenden Sekundärrechtsakte genügen. Die Zustimmung zur Geltung des Nicht-Primärrechts im nationalen Rechtskreis ist quasi blanko und auf Vorrat erteilt worden.[21]
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EuGH: Autonomer Geltungsgrund
Der EuGH und der Großteil der Europarechtswissenschaft betonen im Hinblick auf den Geltungsanspruch der unionalen Rechtsordnung dagegen, dass sie diese nicht (mehr) als völkerrechtliche, sondern als neuartige, supranationale[22], „autonome“ Rechtsordnung sehen.[23] Diese sei zwar durch Abtretung von Souveränitätsansprüchen der Mitgliedstaaten im Wege der Ratifikation der Gründungsverträge begründet worden. Mit dieser vertraglichen Schaffung der Gemeinschaften sei aber die „,Nabelschnur‘ zu den nationalen Verfassungen […] gekappt“[24] worden. Die Unionsrechtsordnung hat sich nach dieser Position von den Nationalstaaten und den nationalen Rechtsordnungen emanzipiert.[25] Nicht mehr die Mitgliedstaaten als ursprüngliche „Herren der Verträge“[26] sind legitimatorische Grundlage der Geltung des Unionsrechts, sondern die Europäischen Verträge sind als „Verfassungsurkunde“[27] zu einem selbstbestimmten Akt mutiert.[28] Folgt man dieser staatsanalogen Konstruktion, so kann das Unionsrecht seine umfassende Geltung selbst anordnen ebenso wie über seinen Anwendungsbereich, seinen Inhalt und seine Auslegung verfügen.[29] Damit bezweckt die Union insofern die politische Festigung ihres Geltungsanspruchs, als die Mitgliedstaaten in der Konsequenz über die innerstaatliche Geltung des Unionsrechts nicht mehr disponieren können.[30]
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Verfassungspluralismus
Hinsichtlich des Geltungsgrundes des Unionsrechts besteht mithin eine Kontroverse, die sich rechtspositivistisch nicht eindeutig lösen lässt (Aporie)[31] und allenfalls einer politischen Antwort zugeführt werden könnte,[32] vielleicht aber auch einfach als Ausdruck des besonderen Charakters und der „Hybridisierung“[33] des Unionsrechts hingenommen werden muss. In jüngerer Zeit wird daher der Blick wieder verstärkt hin zu einem Konzept des Verfassungspluralismus gewendet, der anstelle der Auflösung der unvereinbaren Autoritätsansprüche den Fokus auf die Funktionsweisen einer gleichgeordneten Interaktion der Rechtsordnungen lenkt.[34]
I. Begriffsfragen
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Weites vs. enges Begriffsverständnis
Von der unmittelbaren Geltung zu unterscheiden[35] ist die unmittelbare Anwendbarkeit bzw. – zumeist synonym verwendet – unmittelbare Wirkung[36]. Beide Begriffe sind nicht positivrechtlich verankert, was eine Entwicklungsoffenheit, aber auch Unsicherheit über ihr genaues Verständnis zur Folge hat. Bei einem weiten Verständnis meint unmittelbare Anwendbarkeit, dass das Unionsrecht unmittelbar im innerstaatlichen Rechtskreis wirkt und damit insbesondere von mitgliedstaatlichen Gerichten und Verwaltungsbehörden anzuwenden ist.[37] Gleichzeitig wird bei Bejahung einer so verstandenen „objektiven unmittelbaren Anwendbarkeit“ die Unterscheidung zur Geltung freilich „eher künstlich“[38]. Vorzugswürdig ist daher ein enges Begriffsverständnis, nach dem die unmittelbare Anwendbarkeit die Frage betrifft, inwieweit Bürgerinnen und Bürgern der Mitgliedstaaten durch eine konkrete Bestimmung des Unionsrechts unmittelbar, das heißt ohne weiteren staatlichen Konkretisierungsakt, eine Rechtsposition zugewiesen wird, auf die sie sich berufen können (subjektive unmittelbare Anwendbarkeit).[39]
1. Abstrakte Vorklärung
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Doppelte Hürde
Zur Beantwortung der Frage nach der unmittelbaren Anwendbarkeit des Unionsrechts sind zwei Ebenen zu unterscheiden:[40] Erstens muss das mitgliedstaatliche Recht eine unmittelbare Anwendbarkeit von Rechtsakten der Unionsrechtsordnung zulassen.[41] Dem ist das deutsche Recht dadurch nachgekommen, dass es einerseits durch die verfassungsrechtliche Integrationsermächtigung in Verbindung mit den Zustimmungsgesetzen den „ausschließliche[n] Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich des Grundgesetzes zurückgenommen“[42] und dem Unionsrecht Raum für unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit in der deutschen Rechtsordnung verschafft und andererseits die nationalen Rechtsbehelfe implizit für die Durchsetzung des Unionsrechts geöffnet hat. Zweitens muss das Unionsrecht seinerseits vorsehen, dass die in ihm enthaltenen Rechtspflichten unmittelbar anwendbar sein sollen. Dies wurde vom EuGH erstmals im Urteil van Gend & Loos positiv für das Primärrecht beantwortet. Danach sind Rechtssubjekte der Unionsrechtsordnung „nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen“. Daher solle das Unionsrecht „den Einzelnen, ebenso wie es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen“[43]. Später hat der EuGH die Möglichkeit einer unmittelbaren Anwendbarkeit auf alle Formen des Sekundärrechts ausgedehnt.[44]
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Mobilisierung Einzelner zur Rechtsdurchsetzung
Die damit vom EuGH eingeführte Möglichkeit einer unmittelbaren Anwendbarkeit öffnet Raum für eine weitreichende private Durchsetzung des Unionsrechts. Die EU kennt also nicht nur eine Durchsetzung ihrer Rechtsordnung gegenüber den Mitgliedstaaten, die durch die Union selbst oder durch andere Mitgliedstaaten initiiert wurde (Vertragsverletzungsverfahren [Art. 258 ff. AEUV]). Sie mobilisiert vielmehr auch Einzelne,[45] um eine flächendeckende Umsetzung zu gewährleisten[46] und unionsrechtswidrigem nationalen Recht effektiv entgegenzutreten.
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Objektive Maßstabswirkung
Zu berücksichtigen bleibt freilich, dass, auch wenn eine so definierte unmittelbare Anwendbarkeit nicht vorliegt, das Unionsrecht im nationalen Recht nicht wirkungslos bleibt. Es (z. B. eine Richtlinienbestimmung) entfaltet, sofern es nur eine „unmissverständliche Verpflichtung“ enthält,[47] jedenfalls objektive Maßstabswirkung für das mitgliedstaatliche Handeln.[48] Diese bezeichnet die verbindlichen Rechtswirkungen (insbesondere Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung[49]), die vom Unionsrecht unabhängig davon ausgehen, ob es Rechte für Einzelne begründet oder nicht.[50]
2. Einzelfallbetrachtung
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Notwendigkeit normspezifischer Differenzierung
Die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit muss normspezifisch-konkret beurteilt werden.[51] Die unmittelbare Anwendbarkeit setzt zumindest zweierlei voraus:[52] zum einen die inhaltliche Unbedingtheit der Regelung, die Vorschrift darf zu ihrer inhaltlichen Wirksamkeit also nicht weiterer Maßnahmen weder von EU-Organen noch der Mitgliedstaaten bedürfen;[53] zum anderen die hinreichende Genauigkeit, die Vorschrift muss also – bei uneinheitlicher Terminologie – „klar“[54], „unmissverständlich“[55] bzw. „zwingend“[56] sein.[57] Nach dem engen Begriffsverständnis der unmittelbaren Anwendbarkeit[58] muss die Norm zudem eine konkrete Rechtsposition einräumen. Grundsätzlich können diese Voraussetzungen bei allen Typen des Unionsrechts vorliegen.[59] Die Kriterien der Genauigkeit und Unbedingtheit haben zuletzt zudem an Schärfe verloren und werden vom EuGH kasuistisch und dabei recht großzügig ausgelegt.[60] In der Folge wird teilweise vorgeschlagen, eine zu widerlegende Vermutung zugunsten einer zumindest objektiven unmittelbaren Anwendbarkeit von Unionsrechtsakten aufzustellen.[61] Dies geht jedoch jedenfalls für Richtlinien zu weit (vgl. den Wortlaut von Art. 288 Abs. 3 AEUV) und übersteigt die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung.[62]