Praxis des Bußgeldverfahrens im Kapitalmarktrecht. André-M. Szesny

Praxis des Bußgeldverfahrens im Kapitalmarktrecht - André-M. Szesny


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Aktenkenntnis wird die Nebenbeteiligte in die Lage versetzt, die ihr unstreitig über § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. §§ 444 Abs. 2, 426 Abs. 2 StPO schon im Ermittlungsverfahren zustehenden Rechte – wie das Beweisantragsrecht (vgl. § 136 Abs. 1 S. 5 StPO) – sinnvoll auszuüben.[209] Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die weitgehende Gleichstellung der Verfahrensstellung der Gesellschaft im Einziehungsverfahren und bei der Festsetzung der Verbandsgeldbuße mit der von der Rechtsprechung mittlerweile anerkannten beschuldigtenähnlichen Stellung des Unternehmens im Verfahren nach § 88 OWiG nicht mehr vereinbar ist (siehe Rn. 130). Die Regelung des §§ 88 Abs. 3, 87 Abs. 2 S. 1 OWiG steht der Zubilligung sämtlicher Betroffenenrechte im Ermittlungsverfahren wie dem Akteneinsichtsrecht daher nicht entgegen.

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      Sobald der bußgeldrelevante Sachverhalt ausermittelt ist, ist gem. § 61 OWiG der Abschluss der Ermittlungen in den Akten zu vermerken. Die Bedeutung der Vorschrift liegt darin, dass ab diesem Zeitpunkt das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers und das Recht zur Besichtigung der amtlich verwahrten Beweisgegenstände nicht mehr zum Schutz der Ermittlungen beschränkbar ist (§ 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 147 Abs. 2 StPO; vgl. auch Nr. 109 Abs. 1 RiStBV).

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      Um die Verfahrens- und Qualitätsstandards im Bußgeldverfahren sicherzustellen, wurde im Bußgeldreferat der BaFin ein internes Kontrollsystem (IKS) installiert. Sämtliche Entscheidungen eines Fallbearbeiters werden durch dessen IKS-Partner überprüft. Neben dem internen Kontrollsystem werden zudem in einem Kollegialorgan die Bußgeldentscheidungen besprochen, bevor sie bekanntgegeben werden.[210]

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      Ist nach Durchführung der Ermittlungen die Begehung der Ordnungswidrigkeit nicht erwiesen, hat die BaFin das Verfahren gem. § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 170 Abs. 2 StPO einzustellen. Ein Ermessensspielraum verbleibt nicht, insbesondere hat die Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO Vorrang vor einer Einstellung aus Billigkeitserwägungen[211] gem. § 47 OWiG.[212]

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      Gründe für die Einstellung gem. § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 170 Abs. 2 StPO können insbesondere der fehlende Tatnachweis oder das Vorliegen von (dauerhaften) Verfolgungshindernisse sein. Unter den Voraussetzungen des § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 171 StPO ist der Betroffene von der Einstellung durch Einstellungsnachricht zu unterrichten. Eine Kostenentscheidung ergeht nicht.

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      Der fehlende Tatnachweis kann sich auf alle Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes beziehen. Können verbleibende Zweifel nicht ausgeräumt werden, ist das Verfahren in mittelbarer Anwendung des Zweifelsgrundsatz („in dubio pro reo“) einzustellen.

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      Hat sich der Betroffene im Zeitpunkt der Tat in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum gem. § 11 Abs. 2 OWiG befunden, ist das Verfahren ebenfalls nach § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 170 Abs. 2 StPO einzustellen.

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      Auch tatsächliche oder rechtliche Änderungen nach der Tat können zur Verfahrenseinstellung zwingen. Dies kommt beim Tod des Betroffenen im laufenden Verfahren bzw. dann in Betracht, wenn die Gesellschaft als Nebenbeteiligte nicht mehr existiert (relevant ist die Vollbeendigung der Gesellschaft durch Löschung und nicht bereits deren Auflösung)[213] und die Ahndung eines Rechtsnachfolgers ausscheidet.

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      Als Folge der regen Änderungsfrequenz kapitalmarkrechtlicher Regelungen kommt auch eine Einstellung wegen nachträglicher milderer Gesetzeslage in Betracht. So wurde beispielsweise die Pflicht zur Erstellung einer Zwischenmitteilung der Geschäftsführung (§ 37x WpHG a.F.) durch das TRL-ÄndRL-UmsG abgeschafft. Noch anhängige Verfahren wären aufgrund des Meistbegünstigungsprinzips (§ 4 Abs. 3 OWiG)[214] einzustellen gewesen.

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      Das Bußgeldverfahren ist ferner gem. § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 170 Abs. 2 StPO wegen eines Verfolgungshindernisses einzustellen, wenn das Verbot mehrfacher Ahndung einschlägig ist. Das Prozessgrundrecht gem. Art. 103 Abs. 3 GG des Strafklageverbrauchs (ne bis in item) findet im Ordnungswidrigkeitenrecht zwar keine unmittelbare Anwendung.[215] Allerdings folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip gem. Art. 20 Abs. 3 GG[216] sowie einfach-gesetzlich aus § 84 OWiG, dass die doppelte Verfolgung derselben Ordnungswidrigkeit unzulässig ist. Gemäß § 84 Abs. 1 OWiG kann dieselbe Tat nicht mehr als Ordnungswidrigkeit verfolgt werden, wenn der Bußgeldbescheid rechtskräftig geworden ist oder das Gericht über die Tat als Ordnungswidrigkeit oder als Straftat rechtskräftig entschieden hat.

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      Vertiefung

      Das Verbot mehrfacher Ahndung wird nur durch Sachentscheidungen erzeugt, die aufgrund der allgemeinen Strafgesetze (Art. 103 Abs. 3 GG) oder aufgrund eines Bußgeldbescheids (§ 84 Abs. 1 OWiG) ergehen. Keine Sachentscheidung in diesem Sinne sind beispielsweise Sanktionen des Sanktionsausschusses der Börsen gem. § 22 Abs. 2 BörsG. Die Frage stellt sich, wenn man davon ausgeht, dass Verstöße gegen die Zulassungsfolgepflichten etwa zur periodischen Finanzberichterstattung gem. §§ 114 ff. WpHG nicht nur von der BaFin mit Geldbuße, sondern auch vom Sanktionsausschuss der Börse gem. § 22 Abs. 2 BörsG mit Ordnungsgeld belegt werden können.[217] Das rechtskräftig verhängte Ordnungsgeld durch den Sanktionsausschuss der Börsen würde der Verfolgung als Ordnungswidrigkeit durch die BaFin schon deshalb nicht gem. § 84 Abs. 1 OWiG entgegenstehen, weil die Sanktion nicht aufgrund eines Bußgeldbescheids erlassen worden ist. Auf die Frage, ob dieselbe (prozessuale) Tat betroffen ist, kommt es sodann nicht mehr an.

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      Unter Tat ist die prozessuale Tat (§ 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. §§ 155 Abs. 1, 264 Abs. 1 StPO) zu verstehen.[218] Anders als Taten im materiellen Sinn, womit „Handlungen“ i.S.d. §§ 19, 20 OWiG (bzw. §§ 52, 53 StGB) gemeint sind, ist die Tat im prozessualen Sinn ein geschichtliches Vorkommnis, das das gesamte Verhalten des Täters umfasst, soweit es nach natürlicher Auffassung einen einheitlichen Lebensvorgang bildet.[219] Die prozessuale Tat wird durch die im Bußgeldbescheid enthaltenen Tatvorwürfe umgrenzt. Bei einer Bebußung gem. § 130 OWiG umfasst die prozessuale Tat sowohl die (als einheitlich zu bewertende[220]) Aufsichtspflichtverletzung sowie die ihr zugrundeliegenden Zuwiderhandlungen.[221]

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      Beispiel

      Gegen die N (UK) Ltd. wird eine Verbandsgeldbuße wegen einer Aufsichtspflichtverletzung verhängt. Vorgeworfen wird ihr, die Stimmrechte im Zeitraum Januar 2019 bis Oktober 2019 in 60 von 1000 Fällen aufgrund eines Softwarefehlers, der auf eine Aufsichtspflichtverletzung des Leitungsorgans zurückzuführen ist, unzutreffend berechnet und in der Folge fehlerhaft mitgeteilt zu haben. Der Bußgeldbescheid wird rechtskräftig.

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      Sollte sich im Beispielsfall nachträglich herausstellen, dass noch weitere Stimmrechte im Tatzeitraum fehlerhaft von der Gesellschaft gemeldet wurden, steht der Verfolgung als Ordnungswidrigkeit die Regelung des § 84 Abs. 1 Var. 1 OWiG entgegen. Von der Rechtskraft des Bußgeldbescheids werden alle – auch die im Tatzeitraum bislang nicht ermittelten – Zuwiderhandlungen


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