Pitaval des Kaiserreichs, 4. Band. Hugo Friedländer
selbständig abgegeben. Er lasse sich in seine ärztlichen Gutachten oder Anordnungen nicht hineinreden, allerdings dienen ihm die Angaben des Direktors oder der Aufseher zum Teil als Grundlage. Es sei ihm nicht bekannt, daß Korrigenden wegen Kostentziehung oder Mißhandlungen gestorben seien. Die Korrigenden seien vielfach durch übermäßigen Alkoholgenuß und durch das unregelmäßige, schlechte Leben, das sie vor Einlieferung in die Anstalt gewöhnlich führen, so sehr geschwächt, daß der Tod vielfach sehr schnell eintrete. Daß mit einem Gummischlauch oder mit einem Seil in Brauweiler geschlagen worden, sei ihm nicht bekannt. Es habe niemals ein Häusler geklagt, daß ihm Löcher in den Kopf geschlagen worden seien. Der Häusling Haarhaus habe ihm allerdings einmal geklagt, daß er von dem Aufseher Machler auf den Kopf geschlagen worden sei. Machler sei auf seine (des Zeugen) Anzeige deshalb auch bestraft worden. Er habe niemals an einer Leiche Spuren von Hand- oder Fußfesseln wahrgenommen. Es sei einmal von Häuslingen und einem Werkmeister über große Kälte im Webesaale Klage geführt worden. Er habe dies dem Direktor Schellmann mitgeteilt. Infolgedessen wurde der Webesaal Tag und Nacht geheizt. Die Bekleidung der Häuslinge war eine vollständig zweckentsprechende.
Es erschien alsdann der Zeuge Dr. med. Bardenheuer. Er sei von Anfang 1888 bis April 1893 an der Anatomie in Bonn beschäftigt gewesen. Dieser Anatomie seien Leichen aus Werden, Brauweiler und anderen Anstalten eingeliefert worden. Er könne sich auf die aus Brauweiler gekommenen Leichen nicht speziell erinnern. Im allgemeinen könne er aber sagen, er habe bei keiner Leiche wahrgenommen, daß der Tod durch Kostentziehung oder Mißhandlung erfolgt sei.
Vert.: Ich verzichte auf einen weiteren Beweis nach dieser Richtung.
Auf Befragen des Vertreters der Nebenkläger, Rechtsanwalts Gammersbach, erklärte Direktor Schellmann: Die in Brauweiler Verstorbenen werden, wenn sie nicht an ansteckenden Krankheiten gestorben oder von den Angehörigen nicht reklamiert werden, sämtlich der Anatomie in Bonn überwiesen, wenn nicht gerade Universitätsferien seien.
Staatsanwalt: Wird nun behauptet, daß die wegen Kostentziehung oder Mißhandlung Verstorbenen gerade während der Universitätsferien gestorben sind?
Vert.: Es wird diesseits behauptet, daß diejenigen Leichen, bei denen der Tod durch Kostentziehung oder Mißhandlung erfolgt war, nicht nach Bonn geschafft wurden.
Vors.: Dann behaupten Sie also, daß Direktor Schellmann die Unwahrheit gesagt hat?
Vert.: Allerdings!
Der folgende Zeuge war Dr. med. Wolters. Dieser, der ebenfalls an der Anatomie in Bonn beschäftigt war, bekundete: Die Leichen, die aus Brauweiler kamen, seien zumeist sehr muskulös gewesen, so daß sie den Zwecken der anatomischen Untersuchung sehr förderlich waren.
Der dritte Arzt der Bonner Anatomie Dr. Clasen vermochte sich auf Einzelheiten nicht zu erinnern. Soweit ihm erinnerlich sei, habe der Obduktionsbefund des Brauweiler Häuslings Widder ergeben, daß dieser an Delirium patatorum gelitten und auch daran gestorben sei. Wenn die von dem Anstaltsarzt bescheinigte Todesursache mit dem Obduktionsbefunde nicht übereinstimme, dann werde dies dem betreffenden Anstaltsarzt sofort mitgeteilt.
Auf Befragen des Rechtsanwalts Gammersbach äußerte Direktor Schellmann: Es sei ihm nicht bekannt, daß jemals derartige Berichtigungen von den Bonner obduzierenden Ärzten eingegangen seien.
Hierauf wurde die Aussage des im Juni d.J. vor dem Amtsgericht zu Dirschau kommissarisch vernommenen Werkmeisters Wessel verlesen: Danach hatte dieser bekundet: Er sei einige Zeit auf Betreiben seiner Ehefrau, mit der er in Scheidung lag, vom Amtsgericht zu Köln für geisteskrank erklärt und entmündigt worden. Diese Entmündigung sei aber längst wieder aufgehoben. Er sei eine Zeitlang in Brauweiler als Werkmeister beschäftigt gewesen und habe gehört, daß insbesondere vor dem Fall Wodtke vielfach die Häuslinge geschlagen worden seien. Ein Aufseher Schiefer habe sich dessen ausdrücklich gerühmt. Es wurden mehrfach Häuslinge mit Arbeiten überlastet. Konnten diese das Pensum nicht leisten, dann wurde ihnen auf drei Tage die warme Kost entzogen, oftmals trat noch Dunkelarrest hinzu. Einem Häusling, namens Schmidt, der sein Pensum beim besten Willen nicht bewältigen konnte, habe er (Zeuge) geraten, sich krank zu melden. Schmidt habe dies aber nicht gewagt, er sei deshalb mit Kostentziehung und Arrest bestraft worden. Ein Häusling, namens Schäfer, habe auf ihn den zweifellosen Eindruck eines Irrsinnigen gemacht. Der Mann habe außerdem an epileptischen Anfällen gelitten. Er habe einmal mit einem Meißel nach ihm (dem Zeugen) geworfen, so daß er am Kopfe arg verwundet wurde. Er sei daher genötigt gewesen, dies dem Direktor Schellmann zu melden. Letzterer habe ihn gefragt, ob er die Bestrafung des Mannes verlange. Dies habe er verneint mit dem Bemerken, daß der Mann augenscheinlich geisteskrank sei. Auf Anordnung des Direktors Schellmann sei Schäfer sechs Wochen in die »Cachotte« gesperrt worden und habe nur jeden vierten Tag warme Kost erhalten. Schäfer sei außerdem geschlagen und gefesselt worden. Er habe in dieser Behandlung ein großes Unrecht gesehen, zumal Schäfer seiner Meinung nach vollständig geisteskrank war und in eine Irrenanstalt gehörte. Nachdem Schäfer aus der »Cachotte« herauskam, sei er einige Tage darauf verstorben.
Sanitätsrat Dr. Laudahn: Werkmeister Wessel sei infolge Anzeige seiner Frau von ihm untersucht und beobachtet worden. Wessel, der nach Angabe seiner Frau die unglaublichsten Dinge gemacht, sei infolge übermäßigen Alkoholgenusses Epileptiker geworden. Er habe ihn als dauernd für geisteskrank erklärt und sei der Überzeugung, daß er auch jetzt noch geisteskrank sei.
Vors.: Wessel ist vom Amtsgericht in Dirschau als Zeuge vernommen worden und hat über die Brauweiler Anstalt eine längere Aussage gemacht. Halten Sie diese für glaubwürdig?
Zeuge: Ich gebe die Möglichkeit zu, daß der Mann auch lichte Augenblicke hat. Im übrigen ist mir zu Ohren gekommen, daß Wessel im August dieses Jahres gestorben ist.
Alsdann sollte Geh. Medizinalrat Dr. Michelsen (Düsseldorf) als Zeuge und Sachverständiger vernommen werden.
Der Verteidiger protestierte gegen die Vernehmung des Geheimen Rats Dr. Michelsen als Sachverständiger. Als Zeuge bekundete letzterer: Er sei im Nebenamt Arzt der Rheinischen Provinzialverwaltung und in deren Auftrage habe er vor einiger Zeit die Brauweiler Anstalt, und zwar ohne vorherige Anmeldung, besichtigt. Er habe sämtliche Räume, die Arbeitssäle, Schlafsäle usw. und ebenso die Wäsche und Kleidung der Häuslinge in größter Sauberkeit gefunden. Er habe allerdings auch zwei Zwangsjacken und Handschellen gefunden. Letztere waren aber von innen gepolstert, so daß eine Grausamkeit bei ihrer Anwendung ausgeschlossen war. Eine Mundbinde habe er nicht gefunden.
Darauf wurde als Sachverständiger Geh. Medizinalrat Professor Dr. Pelman (Bonn), Direktor der Rheinischen Provinzialirrenanstalt vernommen. Der Vorsitzende bemerkte dem Sachverständigen: Werkmeister Wessel sei von dem Amtsgericht in Dirschau als Zeuge kommissarisch vernommen worden. Das Gericht habe am Schlusse des Protokolls die Bemerkung gemacht, daß der Zeuge einen vollständig glaubwürdigen Eindruck machte.
Sachverständiger: Als Wessel zwecks Beobachtung in meine Anstalt gebracht wurde, kam es darauf an, zu prüfen, ob die Angaben der Frau oder die seinigen wahr seien. Hatte die Frau recht, dann war der Mann verrückt. Daß der Mann Alkoholiker war, war zweifellos. Er war außerdem herzleidend und wohl infolgedessen ein sehr reizbarer, heftiger Mensch, der ganz besonders von der Wahnidee befangen war, daß seine Frau eheliche Untreue begehe. Diesen Wahn hatte er auch noch in der Anstalt. Da er aber dort keine Alkoholika bekam, wurde er allmählich ruhiger. Ich interessierte mich für ihn, da er ein sehr ausgebildetes Ehrgefühl hatte. Immerhin war Wessel ein Mann, der maßlos heftig war.
Vors.: Ist es möglich, Herr Geheimrat, daß Wessel über Dinge, die zwei Jahre zurückliegen, als Zeuge vernommen, das Gegenteil sagt?
Sachverständiger: Möglich ist das schon. Wessel ist das Kind eines Augenblicks, dem die Gedanken furchtbar durcheinandergehen. Ich will nicht sagen, daß Wessel lügenhaft ist, es entspricht aber seinem ganzen Charakter, daß er die Dinge verwechselt und schließlich das Gegenteil von dem wirklich Geschehenen bekundet.
Vors.: Ist Wessel als genesen entlassen worden?
Sachverständiger: Nein.
Vors.: