Pitaval des Kaiserreichs, 3. Band. Hugo Friedländer

Pitaval des Kaiserreichs, 3. Band - Hugo Friedländer


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habe und kaum Zeit finde, eine Zeitung vollständig zu lesen, auf Informationen angewiesen sei, sei ganz selbstverständlich. Auch im einzelnen sei in den Artikeln keine Majestätsbeleidigung enthalten. Es sei vollständig falsch, anzunehmen, die Sozialdemokratie habe eine Vorliebe für Majestätsbeleidigungen. Dies erinnere ihn an die Christenverfolgungen unter Nero. Die Sozialdemokratie kämpfe nicht gegen Personen, sondern gegen das System. Der »Vorwärts« habe mehrfach vor der Begehung von Majestätsbeleidigungen gewarnt. Wenn trotzdem so verhältnismäßig viel Majestätsbeleidigungen begangen werden, so verschulde dies der Umstand, daß jeder Mensch, mit Rücksicht auf den § 95 des Strafgesetzbuches, den Staatsanwalt fürchte, wenn er nur vom Kaiser spreche. Deshalb werden vielfach andere Namen genannt, um den Kaiser zu bezeichnen. Von einer öffentlichen Beunruhigung könne gewiß in den Artikeln keine Rede sein. Bezüglich der angeblichen Beleidigung des Hofmarschalls v. Trotha sei dem Angeklagten Kaliski zum mindesten der § 193 des Strafgesetzbuches (Wahrnehmung berechtigter Interessen) zuzubilligen, denn der »Vorwärts« sei genötigt gewesen, sich zu rechtfertigen. Man werde nicht leugnen können, daß der »Vorwärts« das Schriftstück erhalten habe von einer intriganten Persönlichkeit, die zweifellos den Hofkreisen näherstehe als der »Vorwärts«. Die Schale des Zornes müsse sich daher gegen diese intrigante Persönlichkeit richten, die vielleicht weniger die Absicht hatte, den »Vorwärts« hineinzulegen, als ihrem Unmut über gewisse Vorgänge Ausdruck zu geben. Wenn die Entrüstung sich gegen diese Persönlichkeit richte, dann habe dies seine Zustimmung. Der Verteidiger schloß mit dem Antrage auf Freisprechung beider Angeklagten, eventuell seien dem Angeklagten Kaliski mildernde Umstände zuzubilligen.

      Verteidiger Reichstags-Abg. R.-A. Haase, Königsberg i. Pr.: Der Herr Oberstaatsanwalt habe an das monarchische Gefühl der Richter appelliert. Es sei das um deswillen sehr gefährlich, da der Richter sich bei der Urteilsfindung nicht von persönlichem Gefühl leiten lassen solle, sondern Pflicht der Richter sei es, leidenschaftslos und ohne Ansehen der Person sachlich zu prüfen und darauf das Urteil aufzubauen. Der Herr Oberstaatsanwalt sagte: Es sei Mode geworden, in verhüllter Form den Kaiser zu beleidigen. Der Herr Oberstaatsanwalt erkannte aber gleichzeitig an, daß gegen den »Vorwärts« schon seit vielen Jahren keine Majestätsbeleidigungs-Anklage geschwebt habe. Soweit er den Herrn Oberstaatsanwalt heute kennengelernt habe, wäre es diesem ein leichtes gewesen, durch die Schleier, in die der »Vorwärts« seine Majestätsbeleidigungen hüllen könnte, zu blicken. Daß dies nicht geschehen, sei doch der beste Beweis, daß der »Vorwärts« nicht zu den Zeitungen gehöre, die mit Vorliebe in verhüllter Form Majestätsbeleidigungen begehen. Wenn man sich an den Wortlaut des inkriminierten Artikels halte und der Sprache nicht Gewalt antue, dann könne man in dem Artikel keine Majestätsbeleidigung finden. Selbst ein Blatt wie die »Tägliche Rundschau« habe ausgeführt: es sei in dem Artikel beim besten Willen keine Majestätsbeleidigung zu erblicken. Sachlich enthalte der Artikel keine Beleidigung. Der Angeklagte Leid habe auch nicht den Dolus der Majestätsbeleidigung gehabt. Die politische Gesinnung des Angeklagten könne nicht in Betracht kommen. Daß in dem zweiten Artikel objektiv eine Beleidigung des Hofmarschalls v. Trotha enthalten sei, könne nicht geleugnet werden. Dem Angeklagten Kaliski stehe aber zweifellos der § 193 des StGB. zur Seite. Da aber aus der Form nicht die Absicht der Beleidigung hervorgehe, so müsse die Freisprechung erfolgen. Der Herr Oberstaatsanwalt habe bei Erörterung der Strafabmessung auf den groben Vertrauensbruch hingewiesen. Dies Argument könne aber hier nicht in Betracht kommen, da man den Gewährsmann des »Vorwärts« gar nicht kenne. Der Verteidiger kam zu dem Schluß, daß beide Angeklagte freizusprechen seien.

      Vert. R.-A. Dr. Max Lewi ersuchte den Gerichtshof, ein freisprechendes Urteil zu sprechen, damit man nicht auf den Gedanken kommen könnte, es handle sich um einen Tendenzprozeß. Es sei wohl möglich, daß eine Hofintrige vorliege, jedenfalls haben die Redakteure des »Vorwärts« in gutem Glauben gehandelt. Ihre Angriffe haben sich gegen die Hofkamarilla gerichtet, eine Majestätsbeleidigung habe dem Artikelschreiber ferngelegen. Er beantrage ebenfalls die Freisprechung, beider Angeklagten.

      Oberstaatsanwalt Dr. Isenbiel erwiderte: Trotz aller Beredsamkeit der Verteidiger sei es diesen nicht gelungen, den Beweis zu führen, daß sich die Angriffe nur gegen die Hofkamarilla und nicht gegen den Kaiser richteten. Dem Vert. R.-A. Dr. Liebknecht müsse er erwidern, daß er (Oberstaatsanwalt) einen politischen oder Tendenzprozeß nicht kenne. Das Dilatorentum, von dem R.-A. Liebknecht sprach, treffe ganz besonders auf den »Vorwärts« zu. Der »Vorwärts« sei im vollsten Sinne des Wortes schon zur öffentlichen Beschwerdeinstanz geworden. Man beschwere sich jetzt nicht nur bei den behördlichen Instanzen, sondern bei dem »Vorwärts«, der jede Beschwerde und Verdächtigung von Behörden bereitwilligst aufnehme. Die Staatsanwälte werden oft genug mit Briefen bedacht, in denen ihnen gedroht werde, daß über sie bei dem »Vorwärts« Beschwerde geführt werden würde. Am erstaunlichsten sei es, daß für den Angeklagten Kaliski der Schutz des § 193 in Anspruch genommen werde. Auf einen solchen Gedanken sei er noch nicht gekommen, sonst würde die Presse die angenehme und bequeme Aufgabe haben, einfach eine Behauptung aufzustellen und dann zu sagen, daß man in der Wahrnehmung berechtigter Interessen Aufklärung verlange.

      In längerer Erwiderung kam R.-A. Dr. Liebknecht zu dem Schlusse, daß aus dieser ganzen Affäre die Angeklagten makellos hervorgehen. Wenn sie mystifiziert worden seien, so würde die alleinige Schuld und Verantwortlichkeit denjenigen treffen, der sie getäuscht habe.

      R.-A. Haase vertrat nochmals den Standpunkt, daß § 193 auf den Angeklagten Kaliski Anwendung finde. Wenn der Oberstaatsanwalt sage: auf diesen Gedanken sei er nicht gekommen, so zeige das eben, wie verschieden die Ansichten über denselben Gegenstand seien. Der Angeklagte Leid sei auch nicht auf den Gedanken gekommen, daß er eine Majestätsbeleidigung begangen habe.

      Angeklagter Leid wandte sich mit großer Entschiedenheit gegen die Ansicht, die der Oberstaatsanwalt über die Stellung eines verantwortlichen Redakteurs beim »Vorwärts« habe. Es sei grundfalsch, daß ein solcher ein willenloses Werkzeug in der Hand der leitenden Redakteure sei. Er könne versichern, daß er vollkommen die Befugnis hatte, Artikel, die ihm bedenklich schienen, zurückzuweisen.

      Nach sehr langer Beratung erkannte der Gerichtshof vollständig dem Antrage des Oberstaatsanwalts entsprechend. Der Vorsitzende führte in der Urteilsbegründung aus, es liege zweifellos eine Majestätsbeleidigung und eine Beleidigung des Hofmarschalls v. Trotha vor. Strafschärfend fiel die Schwere der Beleidigung ins Gewicht. Strafmildernd kam in Betracht, daß die Redaktion des »Vorwärts« nach Ansicht des Gerichtshofes dupiert worden sei. Der § 193 konnte dem Angeklagten Kaliski nicht zugebilligt werden.

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