Zwangsvollstreckungsrecht, eBook. Alexander Bruns
im Erkenntnisverfahren die Verfahrensbeschleunigung in Gestalt der Konzentrationsmaxime zum festen Kanon der Grundprinzipien gehört, wird die Verfahrensbeschleunigung als Grundsatz des Vollstreckungsverfahrens kaum erörtert. Es fällt z.B. auf, dass der deutsche Gesetzgeber den Vollstreckungsorganen keine Vollzugsfrist setzt[54]. Nur für den Gerichtsvollzieher enthält § 5 Abs. 1, 2 GVGA ein allgemeines Beschleunigungsgebot und die Pflicht, bei mehr als einmonatiger Verzögerung den Grund aktenkundig zu machen. Den Beschleunigungsinteressen des Gläubigers hat der Gesetzgeber ferner durch die Sicherungsvollstreckung (§ 720a) und die vereinfachte Vorpfändung (§ 845) etwas Rechnung getragen. Viele schuldnerschützende Rechtsbehelfe tragen zur Verfahrensverzögerung bei, vor allem, wenn sie wiederholt geltend gemacht werden dürfen (§§ 721 Abs. 2, 765a ZPO; 30d ZVG). Immerhin versucht der Gesetzgeber, durch Präklusionsfristen grobe Missbräuche zu steuern (§§ 721 Abs. 3 S. 2, 802b Abs. 3 ZPO; 30b Abs. 1 S. 1 ZVG), wobei allerdings § 765a bisher keine allgemeine Präklusionsregelung enthält.
b) Würdigung und Kritik
6.36
Die verfassungsrechtliche Gewährleistung eines rechtsstaatlichen, fairen Verfahrens (Rn. 1.3, 7.1) hat nicht nur im Erkenntnisverfahren eine zeitliche Dimension. Es ist eigenartig, dass mit der Näherung des Gläubigers an das Ziel der Befriedigung die Konzentrationsmaxime mehr und mehr an Kraft verliert. Das Recht zeigt verständliche Hemmung, auf den am Boden liegenden Schuldner rasch einzuschlagen und lässt dabei dem listigen Schuldner Raum zur Verzögerung. Insgesamt sind im deutschen Recht nicht alle Möglichkeiten der Beschleunigung ausgeschöpft. Insbesondere besteht eine eigenartige Zurückhaltung, den Vollstreckungsorganen klare Fristen zu setzen[55]. Solange der Gläubiger zwischen verschiedenen Vollstreckungsorganen frei wählen kann, mag dies angehen; bei einer Zentralisierung (Rn. 6.47) erschiene aber das freie zeitliche Ermessen der Behörde verhängnisvoll, und darin liegt m.E. ein Mangel des Entwurfs 1931, der nur eine schwammige Generalklausel enthält (§ 847 Entwurf).
1. Prioritätsgrundsatz
Schrifttum:
Fragistas, Das Präventionsprinzip in der Zwangsvollstreckung, 1931; F. Baur, Los principios de prioridad e igualdad en la ejecucion forzosa singular, in: Sobretiro de Boletin Mexicano de Derecho comparato, Nueva Serie Ano VIII (1975), Nó. 22–23, p. 67 ff. (mit falscher Titelübersetzung: „en la jurisdicción voluntaria“); R. Schmidt, Prioritätsprinzip oder Ausgleichsprinzip, FS Lehmann, 1937, S. 324 f.; Schlosser, Vollstreckungsrechtliches Prioritätsprinzip und verfassungsrechtlicher Gleichheitssatz, ZZP 97 (1984), 131; R. König, Rechtsstaatsprinzip und Gleichheitssatz in der Zwangsvollstreckung, 1985 (Diss. Tübingen); P. Siebert, Das Prioritätsprinzip in der Zwangsvollstreckung, 1988 (Diss. Göttingen); H. Welbers, Vollstreckungsrechtliches Prioritätsprinzip und verfassungsrechtlicher Gleichheitssatz, 1991 (Diss. Bonn); Wacke, Zur Pfändung bei nicht ehelichen Partnerschaften und zum Prioritätsprinzip, ZZP 105 (1992), 436, 438 ff.; Deren-Yildirim, Gedanken über die Verteilungsprinzipien im Zwangsvollstreckungsrecht, FS Gaul, 1997, S. 109; Becker, First in time, first in right, 2000; Knoche/Biersack, Das zwangsvollstreckungsrechtliche Prioritätsprinzip und seine Vereitelung in der Praxis, NJW 2003, 476; Berger, Haftungsrechtliche Verteilungsprinzipien an der Schnittstelle von Einzelzwangsvollstreckung und Insolvenz, ZZP 121 (2008), 407; Hoffmann, Prioritätsgrundsatz und Gläubigergleichbehandlung, 2016 (Habil. Heidelberg)
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Man kann auch in der Einzelvollstreckung ähnlich wie in der Insolvenz[56] alle pfändenden Gläubiger unabhängig von der Reihenfolge des Zugriffs gleichmäßig befriedigen (Ausgleichsprinzip). Das Gegenmodell zur par conditio creditorum ist das Prioritäts- oder Präventionsprinzip, das sich an der Reihenfolge des Vollstreckungszugriffs orientiert. Eine Mittellösung ist das Gruppenprinzip: alle Gläubiger, die binnen eines bestimmten Zeitraums auf Vollstreckungsobjekte zugreifen, erhalten ranggleiche Pfandrechte, die späteren Gläubigern vorgehen[57].
a) Die Geltung des Prioritätsprinzips
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Das geltende deutsche Recht verwirklicht – wenigstens ganz überwiegend – den Prioritätsgrundsatz, und zwar in der Mobiliar- und Immobiliarvollstreckung (§§ 804 Abs. 2 ZPO, 11 Abs. 2 ZVG). Er gilt auch in der Sicherungsvollstreckung nach Arrest (§§ 928, 930 Abs. 1). Bei der Herausgabe- oder Leistungsvollstreckung (§§ 883 ff., 894) versteht sich dieser Grundsatz von selbst, weil nach materiellem Recht der Schuldner nur einmal wirksam dinglich verfügen (§§ 873, 929 ff. BGB) und nur einmal herausgeben kann, sodass einem Gläubiger mit späterem Titel nur der Schadensersatz bleibt (§ 893 ZPO); soweit eine einstweilige Anordnung Leistungsansprüche durch Vormerkung oder Widerspruch sichert, gilt ebenfalls der Prioritätsgrundsatz (§§ 938 ZPO; 885, 883 Abs. 2, 899, 892 Abs. 1 BGB).
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Eine Verwässerung des Prioritätsgrundsatzes contra oder extra legem findet sich – oft übersehen – in § 117 Abs. 1 GVGA: „Ein Gerichtsvollzieher, der vor Ausführung einer ihm aufgetragenen Pfändung von den anderen Gläubigern mit der Pfändung gegen denselben Schuldner beauftragt wird, muss alle Aufträge als gleichzeitige behandeln und deshalb die Pfändung für alle beteiligten Gläubiger zugleich bewirken. Auf die Reihenfolge, in der die Vollstreckungsaufträge an den Gerichtsvollzieher gelangt sind, kommt es nicht an, sofern nicht die Pfändung auf Grund eines früheren Auftrags schon vollzogen ist; denn der Eingang des Vollstreckungsauftrags für sich allein begründet kein Vorzugsrecht des Gläubigers vor anderen Gläubigern“. Die Problematik kehrt in § 11 Abs. 2 ZVG wieder, wo man lehrt, mehrere Anträge auf Anordnung oder Beitritt zur Zwangsversteigerung seien in einem Beschluss zu bescheiden, mit der Folge des Gleichrangs, gleichzeitig aber anfügt, das Gericht dürfe Anträge nicht zurückstellen oder zuwarten[58]. Faktisch führt die Möglichkeit des „Sammelns“ von Anträgen durch das Vollstreckungsorgan zu einer Beschränkung des Präventionsprinzips im Sinne des Gruppenprinzips.
b) Das Prioritätsprinzip im materiellen Recht
6.40
Das Prioritätsprinzip des Vollstreckungsrechts spiegelt das materiellrechtliche Prioritätsprinzip wider. Der Rechtsinhaber kann tatbestandlich nur einmal wirksam verfügen (§§ 873, 929 ff., 398 etc. BGB), die Rangfolge von dinglichen Belastungen richtet sich überwiegend nach ihrer zeitlichen Reihenfolge (§§ 879, 1209 BGB; 11 Abs. 1 ZVG). Im Grundbuchverfahrensrecht ist nach der Reihenfolge der Eintragungsanträge einzutragen (§ 17 GBO), wodurch – anders als im Vollstreckungsrecht – der materielle Grundsatz verfahrensrechtlich voll umgesetzt wird. Auch bei atypischen Sicherungsrechten ist das Prioritätsprinzip der Ausgangspunkt der Konkurrenzlösung[59].
aa) Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung
6.41
Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung zeigen einen Zusammenhang zwischen Gestaltung der Insolvenz und der Einzelvollstreckung. Die Gesamtvollstreckung mit Gleichrang aller Gläubiger ist die historisch ältere Lösung, die Einzelvollstreckung mit Prioritätsprinzip Ergebnis einer allmählichen und späteren Entwicklung[60]. Rechtsordnungen, die nur für Kaufleute oder Gewerbetreibende die Insolvenz als Gesamtvollstreckung vorsehen[61], tendieren für die Einzelvollstreckung eher zum Gleichrangprinzip oder doch zum Gruppenprinzip. Das deutsche Recht kennt die Insolvenz für Private und für Unternehmen bzw. Kaufleute und verwirklicht dort den Gleichrang (par conditio creditorum); daneben kennt es für beide Schuldnertypen aber auch die Einzelvollstreckung und