Zwangsvollstreckungsrecht, eBook. Alexander Bruns
Jahren nahezu verdoppelt. Die Zahl der abgegebenen eidesstattlichen Versicherungen ist von ca. 130 000 im Jahre 1970 zunächst auf rund 940 000 in 2002 stärker angewachsen, dann jedoch ist die Zahl der Vermögensauskünfte auf ca. 860 000 in 2015 abgesunken[5]. Über das Verhältnis zwischen dem objektiven Verkehrswert des Vollstreckungsgutes und dem Versteigerungserlös existieren nur Vermutungen, die einen bloß 40%igen Versteigerungserlös ansetzen und dann eine „Verschleuderung“ von Schuldnervermögen in Höhe von ca. 375 Millionen errechnen[6]. Die Schwierigkeit liegt hier bereits in der Festlegung objektiver Werte, ergebnisorientierten Spekulationen bleibt ein weites Feld.
a) Mobiliarvollstreckung
4.3
Bei den Amtsgerichten hat sich in der Zeit zwischen 1970 bis in die letzten Jahre die Zahl der Forderungspfändungen von knapp einer Million auf ca. 1,5–2 Millionen gewaltig vermehrt[7]. Die Bedeutung der Forderungspfändung ist also laufend gestiegen. Die allzu großzügige Anhebung von Pfändungsfreigrenzen trifft das Zwangsvollstreckungsrecht dementsprechend in einem wirtschaftlich bedeutenden Segment, eine maßvolle Bestimmung dient der Erhaltung der Funktionsfähigkeit. Die Haftanordnungen haben sich von etwa 380 000 im Jahre 1969 auf ca. 550 000–600 000 in den letzten Jahren gesteigert, wobei in den vergangenen zehn Jahren eine gewisse Konsolidierung zu beobachten ist. Vielfach hat man aus diesen Zahlen geschlossen, dass der Vollstreckungsauftrag an den Gerichtsvollzieher gar nicht mehr so häufig der Sachvollstreckung diene, sondern der Auftakt zum Offenbarungsversicherungsverfahren sei, das dann nach Aufklärung die Forderungspfändung erst ermögliche. Damit mag die Realität richtig eingeschätzt sein; eine andere Frage ist, inwieweit sich aus dieser Analyse Reformvorschläge zwingend herleiten lassen. Die Einführung der Vermögensauskunft ist vor diesem Hintergrund allerdings durchaus plausibel.
b) Immobiliarvollstreckung
4.4
Während im Jahre 2002 in der Bundesrepublik 81 000 Zwangsversteigerungsverfahren sowie 33 700 Zwangsverwaltungen[8] eingeleitet worden sind, sanken die Zahlen bis 2017 auf 33 600 Zwangsversteigerungen und 4 600 Zwangsverwaltungen[9]. Über die durchgeführten Verfahren und über die dabei realisierten Werte bei Versteigerungen gibt es leider keine amtlichen statistischen Angaben. Schätzungen sind schwierig, weil die Auswirkungen der vorrangigen Rechte auf das Vollstreckungsergebnis schwer zu kalkulieren sind und auch die Grundstückswerte sehr unterschiedlich liegen. Man geht aber wohl nicht fehl, wenn man das Vollstreckungsergebnis auf einen Betrag von mehreren Milliarden € kalkuliert. Oft erfolgt unter dem Druck der begonnenen Immobiliarvollstreckung auch ein freiwilliger Verkauf zur Schuldentilgung.
1. Soziologie des Vollstreckungsschuldners
4.5
Das Vollstreckungsverfahren ist insgesamt weniger Gegenstand rechtssoziologischer Forschung als das Erkenntnisverfahren gewesen. Eine gewisse Änderung hat die Problematik des „modernen Schuldturms“ gebracht, die mehr und mehr zum Thema des Verbraucherschutzes geworden ist. Zahlreiche Verbraucher erliegen den Verführungen des Konsums auf Kredit[10] und sehen sich vollstreckbaren Titeln ausgesetzt, die sie lebenslänglich auf dem Niveau der Pfändungsfreigrenze und damit auf Sozialhilfeniveau halten, falls eine stetige und rigorose Vollstreckung erfolgt und Zinsen und Kosten vor der Hauptforderung befriedigt werden (§ 367 Abs. 1 BGB), der Titel also immer neue Nebenforderungen produziert. Die Rechtsentwicklung hat allerdings zu Recht Abhilfe weniger durch Änderungen des Einzelvollstreckungsrechts gesucht, sondern sieht die Lösungs- und Linderungsmöglichkeiten eher in Reformen des materiellen Rechts, des Erkenntnisverfahrens und des Insolvenzrechts. § 497 Abs. 3 BGB ändert die Tilgungsreihenfolge des § 367 Abs. 1 BGB von Kosten, Zinsen, Hauptforderung in Kosten, Hauptforderung, Zinsen. Die Grundsätze für die Sittenwidrigkeit von Ratenkreditverträgen, wie sie die Rechtsprechung entwickelt hat[11], sind zwar auch in den neuen §§ 491 ff. BGB nicht gesetzlich fixiert worden, aber immerhin verhindern die neugefassten §§ 688 Abs. 2 Nr. 1, 690 Abs. 1 Nr. 3, 691 Abs. 1 Vollstreckungsbescheide über Ratenkredite ab einer verdächtigen Zinshöhe[12]. Die Insolvenzrechtsreform hat dem überschuldeten Schuldner, falls er eine natürliche Person ist, die Möglichkeit eines Insolvenzverfahrens zur Restschuldbefreiung gewährt (§§ 286 ff. InsO)[13]. Beratungsstellen der Verbraucherorganisationen, Wohlfahrtsverbände, Kommunen und Kirchen bemühen sich zunehmend um außergerichtliche Hilfestellung durch Beratung und Vermittlung.
2. Vollstreckungsorgane als „Sozialingenieur“?
4.6
Während die herkömmliche Vorstellung die Vollstreckungsorgane eher als Organe eines formalisierten Vollstreckungszugriffs begreift und den Organwaltern, insbesondere den Gerichtsvollziehern und Rechtspflegern, eine beratende und gestaltende Kompetenz weniger zugestanden hat, unterliegt dieses Bild der Vollstreckungsorgane zunehmendem Wandel. So sprechen Literatur und Praxis[14] von der „sozialen Kompetenz“ des Gerichtsvollziehers, „Schuldner bei der Abwicklung von Zahlungsverpflichtungen zu unterstützen“, vom Gerichtsvollzieher als „neutralem Vermittler zwischen den wirtschaftlichen Belangen der Gläubiger und den wirtschaftlichen Belangen der Schuldner“, schließlich davon, dass „eine gewisse Sozialarbeiterkomponente … beim richtig verstandenen Gerichtsvollzieheramt schlechterdings unvermeidlich“ ist. Auch für das Versteigerungsgericht als Vollstreckungsorgan der Immobiliarvollstreckung tritt teilweise der Fürsorgegedanke stärker in den Vordergrund, nachdem das BVerfG in mehreren Entscheidungen die aktive Verfahrensgestaltung, die den Schuldner vor Verschlechterungen schützt, zum Verfassungsgebot erhoben hat[15]. Tendenziell folgt aus solchem Wandel des Rollenverständnisses die Betonung ausgleichender, informativer und beratender Funktionen, die sich dann auch in entsprechenden Reformvorstellungen niederschlagen, z.B. in der Diskussion um die Vermittlung ratenweiser Tilgung unter Vollstreckungsaufschub durch den Gerichtsvollzieher sowie in der Verpflichtung des Gerichtsvollziehers, jederzeit auf eine gütliche Einigung bedacht zu sein (§ 813a a.F. (i.d.F. der 2. Zwangsvollstreckungsnovelle); siehe jetzt § 802b n.F.)[16]. Insgesamt zeigt sich darin – ähnlich wie im Erkenntnisverfahren und im Insolvenzrecht – eine gesetzgeberische Tendenz zur Förderung einvernehmlicher Lösungen, die an die Stelle eigentlicher Zwangsvollstreckung treten sollen.[17] Man wird solchen Strömungen gegenüber, die sich aus der Veränderung der sozialen und wirtschaftlichen Koordinaten speisen, insoweit offen sein müssen, als sie Spielräume des gegenwärtigen Systems ausnützen und seine Elastizität erhöhen und bewahren, ohne es aufzulösen.
1. Grundsätzliche Mängel
4.7
Die Liste grundsätzlicher Mängel, die über das geltende Einzelvollstreckungsrecht von seinen Kritikern in Theorie und Praxis errichtet wird, umfasst folgende wichtige Punkte: fehlende Einheitlichkeit der Kodifikation und fehlende Transparenz; Vielfalt der Rechtsbehelfe; fehlende Koordination der voneinander unabhängig arbeitenden Vollstreckungsorgane („eine Hand weiß nicht, was die andere tut“); defizitäre Sachverhaltsaufklärung ohne ausreichende amtswegige Ermittlung; Ineffektivität der Vermögensoffenbarung erst bei freier Wahl der Vollstreckungsarten; Willkürlichkeit des Prioritätsprinzips; verwirrende Regelungsvielfalt im Verhältnis zivilprozessualer Vollstreckung und Verwaltungsvollstreckung; falsche Schwerpunktsetzung zwischen Sachpfändung und Forderungspfändung; übertriebene Formalisierung des Handelns der Vollstreckungsorgane.
2. Grundzüge einer Grundsatzreform
4.8
Diese echten oder vermeintlichen Schwachstellen des deutschen Vollstreckungssystems nähren teilweise die Forderung nach einer grundsätzlichen Reform, die auf das