Die Vampirschwestern – Der Meister des Drakung-Fu. Franziska Gehm
und Silvania starrten wie gebannt auf den Bildschirm. Mehrmals lasen sie den Steckbrief ihres virtuellen Zwillings durch.
„Wir haben einen Bruder!“, sagte Daka schließlich.
„Und er ist ein Vampgole. Wie aufregend, wie exotisch!“
Daka und Silvania wollten sich am liebsten auf der Stelle in der Jurte umsehen. Doch das ging erst, wenn Kerul sie auch als virtuelle Zwillinge adoptiert hatte.
„Da“, sagte Daka und fuhr mit der Maus auf eine Sprayflasche, die vor der Jurtenwand am Boden stand. „Wir schreiben Kerul etwas an seine Zeltwand.“ Daka drückte auf die Maus und schrieb: Hallo Kerul! Wir waren hier. Du leider nicht. Komm doch mal zu uns in den Sarg, Bruder! Deine virtuellen Zwillinge Silvania und Daka.
Discokurs
Silvania saß hinter dem Haus auf der Terrasse im Schatten. Sie trug eine große Sonnenbrille mit gold-glitzerndem Rand und einen alaskablauen Hut. Die ebenfalls blauen feinen Handschuhe reichten ihr bis über die Ellbogen. Sie saß kerzengerade im Stuhl, als hätte sie einen Sargdeckel im Rücken. Mit spitzen Fingern tippte sie auf dem Laptop, der vor ihr auf dem Tisch stand.
„Wieder eine Nachricht von Bogdan?“, fragte Helene. Sie lag neben Silvania in einem Liegestuhl auf der Terrasse und malte gerade mit einem Kugelschreiber einen Vampir mit zerzausten Haaren, tiefen Augenhöhlen und dichten Wimpern auf ihren Arm.
„Bogdan schreibt keine Nachrichten“, meldete sich Daka zu Wort. Sie baumelte ein paar Meter entfernt in einem Birnbaum. „Er schickt r-o-m-a-n-t-i-s-c-h-e Zitate.“ Daka hielt sich einen vampwanischen Comic vor die Nase. Er hieß Flatsch ug Mitsch und handelte von den Abenteuern einer Fledermaus und eines geflügelten Katers. Flatsch ug Mitch waren in Transsilvanien sehr beliebt. Die beiden sollte Bogdan mal zitieren, fand Daka.
Silvania tätschelte einen Ordner, der auf dem Tisch neben dem Laptop lag. „Ich habe sie alle ausgedruckt.“
„Hast du auch schon was von Murdo ausgedruckt?“ Daka schielte über den Rand des Comics zu Helene. Die Vampirschwestern wussten, dass Helene erfolgreich mit Murdo Kontakt aufgenommen hatte. Aber das war auch schon alles, was sie wussten.
Helene schüttelte den Kopf.
„Antwortet er dir etwa nicht mehr?“ Silvania sah Helene mitfühlend an.
„Doch. Aber immer nur so … mysteriös.“ Helene holte tief Luft. „Wenn ich ihm zum Beispiel schreibe, dass ich oft an unser Date im Wald in Transsilvanien denke, dann schreibt er zurück, dass ihm bei dem Gedanken daran jetzt noch das Wasser im Munde zusammenläuft.“
Daka und Silvania machten beide „hm“ und ein nachdenkliches Gesicht.
„Wenn ich ihm schreibe, dass ich ihn total cool und schön schaurig finde, schreibt er mir daraufhin, dass er mich zum Anbeißen lecker findet.“
Daka und Silvania machten beide „aha“ und wiegten den Kopf.
„Und heute Morgen habe ich ihm geschrieben, dass ich von seinen orangefarbenen Augen geträumt habe. Da hat er geantwortet, dass er von meinem zarten Hals und der herrlichen Halsschlagader darunter geträumt hat.“
Daka und Silvania warfen sich einen kurzen, besorgten Blick zu.
„Also, wenn es Liebeserklärungen sind“, sagte Silvania zögernd, „dann sehr ungewöhnliche.“
„Vielleicht sind es aber auch nur Appetitserklärungen“, warf Daka ein.
Helene nickte und starrte auf den gemalten Vampir auf ihrem Arm. Ihre sonst strahlend hellblauen Augen waren stumpf und fast grau. „Meint ihr, ich soll den Kontakt lieber abbrechen?“ Als Helene ihre Freundinnen fragend ansah, schimmerten Tränen in ihren Augen.
Silvania stand auf und strich Helene über den Arm. Daka flog vom Birnbaum und setzte sich neben Helene auf die Liegestuhllehne.
„Nein“, sagte Silvania, „du musst nur vorsichtig sein, solange du dir nicht sicher bist, was er von dir will.“
„Na ja, was er so bis jetzt geschrieben hat …“ Helene schnaubte. „Da ist die Sache ja wohl klar. Frischblut bin ich, mehr nicht.“
„Gumox“, sagte Daka. „Murdo ist ein cooler Typ. Er muss sein geheimnisvolles, verwegenes Image bewahren. Er kann doch nicht einfach einem Menschenmädchen irgendetwas vorsäuseln. Wie sieht denn das aus? Seine Fans wären so was von enttäuscht.“
Silvania nickte. „Und er ist ein Künstler. Du darfst nicht alles wörtlich nehmen, was er dir schreibt. Wenn er sagt, er findet dich zum Anbeißen, dann will er dich bestimmt nicht beißen, sondern nur …“
„… ein bisschen an dir knabbern“, ergänzte Daka.
Helene zog die Augenbrauen zusammen.
Auf einmal gab der Laptop ein Geräusch von sich, als hätte ein Pfeil auf einer Zielscheibe mitten ins Schwarze getroffen.
„Kerul!“, riefen Daka und Silvania wie aus einem Mund.
Helene sah neugierig zum Laptop. Sie wusste schon, dass die Vampirschwestern die ganzen letzten Tage über fast ständig in Kontakt mit ihrem geheimnisvollen, virtuellen mongolischen Zwilling gestanden hatten.
„Komm, du musst dir unbedingt mal seine Jurte ansehen.“ Daka zog Helene aus dem Liegestuhl.
„In Wirklichkeit wohnt er auch in einer Jurte, aber in einer unterirdischen, die in den Boden eingelassen ist. Und diese Jurte ist riesengroß“, erklärte Silvania.
„Denn sein ganzes Heimatdorf lebt in diesem gigantischen Zelt“, sagte Daka.
„Und wenn die Vampgolen tagsüber schlafen, legen sie sich nicht in einen Sarg, wie jeder normale Vampir, sondern rollen sich in einen alten Teppich ein“, fuhr Silvania fort.
„Wie lauter Vampir-Hot-Dogs muss das aussehen“, steuerte Daka bei.
Silvania, Helene und Daka setzten sich vor den Laptop. Keruls Jurte erschien und sie traten mit einem Mausklick ein. Oben am Jurtendach waren mehrere Leinen gespannt. „Die sind zum virtuellen Abhängen“, erklärte Daka.
„Wieso steht da in der Ecke ein Hirsch?“, fragte Helene. „Ist das etwa … Keruls Lieblingsessen?“
„Das ist ein Maralhirsch. Kerul hat uns erklärt, dass es sehr stolze und wunderschöne Tiere sind“, erwiderte Silvania. „Er schwingt sich gerne auf ihren Rücken und reitet sie in der Hocke.“
„Maralsurfing“, fügte Daka hinzu. „Kerul hat total abgefahrene Hobbys.“
„Ja, er sammelt Pflanzen, trocknet sie und presst sie in einem Buch“, erzählte Silvania.
Daka runzelte die Stirn. „Ich meinte eigentlich das Drakung-Fu. Kerul ist ein junger Krieger, musst du wissen.“
„Herrscht in der Mongolei Krieg?“, fragte Helene.
„Nein, aber alle jungen Vampgolen werden, sobald sie die ersten paar Meter fliegen können, im Drakung-Fu unterrichtet. Das ist eine vampgolische Kampfkunst und ein Lebensprinzip.“
Daka sprang in die Luft, streckte abwechselnd einen Arm und ein Bein aus und fuchtelte wild mit den Armen herum, als wollte sie die Luft zerhacken. „Ha! Hu! Zong! Dai! Wong!“, schrie sie dabei.
„Ein Drakung-Fu-Krieger setzt alles beim Kampf ein: seine Arme, Beine, Eckzähne, aber vor allem seine Weisheit, seinen Instinkt und seinen Mut“, erklärte Silvania.
„Und seine unbändige Kraft“, rief Daka und schlug mit der Handkante auf Silvanias Ordner. Sie grinste den Schmerz einfach weg. Wie ein echter Drakung-Fu-Krieger.
Silvania warf ihrer Schwester einen warnenden Blick zu und zog den Ordner auf ihren Schoß. Dann spuckte sie dreimal auf Dakas Handkante. Das war ein bewährter vampwanischer Brauch gegen Schmerzen.
„Und