Der Ochsenkrieg. Ludwig Ganghofer
Runotter streckte die Hand nach der wollenen Decke, ohne sie anzurühren. Und wie jedesmal, wenn er seinen Buben mit geschlossenen Augen sah, so jagte dem Richtmann auch jetzt eine Reihe von Bildern durch das Gehirn.
Er sah sein junges Weib aus dem Tal des Windbaches heimkommen, an der Hand das verstörte Dirnlein, das in einem erwürgten Schreikrampf immer schlucken mußte; alles Weiße am Gewand des jungen Weibes hatte rote Flecken wie von Blut; aber die kamen nur von den zerdrückten Erdbeeren; doch am Hals und auf der kalkbleichen Wange hatte sie eine leichte Ritzwunde.
Er sah sein Weib auf der Bank in der Stube sitzen, sah, wie sie zitterte an Händen und Knien, wie sie immer das Gesicht hin und her drehte, immer ihres Mannes Augen vermied und stumm blieb auf alle Fragen. Immer stumm, solang der Tag noch ein Bröslein Licht hatte. Und erst in der Nacht, als sie im Dunkel der Kammer an ihres Mannes Hals geklammert hing, da kam ihr die Sprache.
Er sah sich im Münster zu Berchtesgaden hinter einer Säule stehen, das Messer im Ärmel verborgen; er sah die Stiftsherren beim Rauschen der Orgel zu ihren Chorstühlen kommen, alle, alle — und nur ein einziger kam nicht und blieb verschwunden: Hartneid Aschacher.
Er sah einen grauen Wintermorgen und sah, wie ihm die schweigende Hebfrau auf seine ausgestreckten Hände hin ein verdrehtes, widersinnig verschobenes Menschenkind legte, das die Augen nicht auftat, immer das schmerzhafte Mündchen öffnete und doch nicht lallen wollte.
Er sah —
Da legte er langsam den Arm über seine Augen.
Lautlos trat er hinaus in die Nacht.
Nun saßen Vater und Tochter auf dem schmalen Bänklein, Schulter an Schulter, immer schweigend.
Dann fing Runotter ruhig zu reden an und erzählte von dem ›Stellmann‹, den er für Jakob gefunden.
Wieder schwiegen die zwei.
Und immer leiser wurde das Lied der Frösche, immer weiter schien es fortzurücken, immer ferner in die Nacht hinauszuschwimmen. Es wurde zuletzt wie eine feine Stimme, die zärtlich herausflüsterte aus dem Dunkel: Komm, komm, komm, komm —
»Das hör ich gern!« sagte Jula.
Nun erzählte Runotter von der Arbeit im Hof daheim. »Aber arg still ist’s im Haus. Tät mir recht sein, wenn der erste Reif schon da war und du kämst mit dem Jakob wieder heim! Beieinand sein ist allweil das best. Aber jetzt muß ich fort, muß noch ein paar Weg machen in der Nacht.« Er war aufgestanden und hatte Jula schon die Hand gereicht. Und nun erst sprach er von dem anderen, von der Narretei dieser Pfändung.
Die Hirtin erschrak. Und in der Sorge um ihre Tiere, die sie liebhatte, sprach sie zornige Worte.
Der Vater schob die Füße in die Schuhe. »Komm, geh ein lützel weiter vom Käser weg. Der Bub soll mich nit sehen, wenn er aufwacht. Der braucht’s nit wissen.«
Die beiden gingen langsam in die Nacht hinaus, Runotter mit Zaum und Gurt über dem Arm. Als der Vater stehenblieb, sagte Jula in Zorn: »Das ist doch unrecht, Vater!«
»Mehr Unverstand und ein lützel Irrtum, der sich weisen wird. Ich glaub eh, sie lassen’s gut sein. Aber kommen die Pfändleut; so mußt dich nit aufregen. Ich schick dir morgen in der Früh den Heiner herauf. Tat selber kommen, wenn ich nit bei der Gnotschaft sein müßt. Und zum Paß dahinten, gegen den Hallturm, leg ich einen Buben als Lugaus. Merkt er die Pfändleut, so muß er heimspringen und unter der Alben drei Juchzer tun, daß du weißt, sie kommen. Da geh mit dem Jakob vom Käser weg, weit weg, bleib in den Stauden hocken und tu dich nit kümmern um die ganze Sach. Der Heiner macht schon alles.«
»Vater, das ist hart, daß du mich wegschicken tust von meiner Herd!«
»Bloß wegen dem Buben, weißt! In drei, vier Tag ist alles wieder gut. Leicht morgen zum Abend schon. Über den Bruchboden bringen die Pfändleut so viel schwere Küh nit hinüber. Da müssen sie durch die Ramsau. Und beim Seppi Ruechsam steht die Gnotschaft mit unserm Recht. Kann sein, ich bring die Küh vor Nacht wieder her. Geht’s anders, so tu ich Botschaft schicken. Da bleibt der Heiner zum Ochsenhüten, und du mit dem Buben kommst heim.«
Jula konnte nicht reden.
Runotter tat auf den Fingern einen Pfiff. Ein Pochen wie von zwei schweren Hämmern ließ sich hören, und der Schimmel kam aus der Nacht herausgaloppiert. Der Richtmann fühlte an den Gaul. »So? Hast du dein warmes Jäckl schon wieder abgebeutelt?« Er gürtete und zäumte den Schimmel.
Da sagte Jula: »Daß die Leut so schlecht sein können!«
»Wie’s half geht!«
»Muß das allweil so sein? Und ist das allweil so gewesen?«
»Ein Sträßl zum Besseren gibt’s überall, und gewesen ist’s auch nit allweil so. Meines Vaters Vater hat als junger Bursch noch leben dürfen in der, seligen Heinrichszeit.«
Beklommen fragte die Hirtin: »Was für eine Zeit ist das gewesen?«
»Bald hundert Jahr ist’s her, da hat im Land ein guter Fürst regiert, Herr Heinrich von Inzing. Von dem hat meines Vaters Vater als altes Mannderl oft erzählt, und wenn er geredet hat von ihm, sind die Leut herumgesessen, mäuserlstill, und jedem ist ein Glanz in den Augen gewesen.«
»Da hätt ich leben mögen!« sagte Jula leis.
»Ja, Kind, selbigsmal, sagen die alten Leut, da wär das Gadener Land wie ein Paradeis gewesen. Und nit der Herrgott hat’s gemacht. Ein Mensch! Da glaub ich dran: Ein starker und guter Mensch macht tausend glückselige Leut und greift dem Elend der Welt ins Karrenrad.« Runotter sprang auf den Gaul. »Der Schimmel hat die besseren Augen. Da geht’s flinker. Gut Nachts Kindl! Und morgen tust so, wie ich’s haben will. Gelt?« Er faßte die Hand, die Jula ihm hinaufbot. »Gestern noch die beste Ruh, und heut so eine Sorg! Möcht nur wissen, wer die Narretei da aufgerührt hat. Der Marimpfel kann’s nit gewesen sein. Der ist doch heut schon mit der Ladung kommen.« Runotter spürte an Julas Hand eine Bewegung. »Was hast?«
Sie schüttelte den Kopf. Und schweigend stand sie in der Dunkelheit.
»Jetzt muß ich aber davon! Gut Nacht! Und tu am Käser die Tür fest riegeln.«
Jula blieb stehen.
Den Vater sah sie schon nimmer. Nur auf dem Rasen hörte sie noch vier Hämmer leise pochen. Manchmal klang’s wie Eisen gegen einen Stein; und winzige Funken sprühten auf.
Langsam drehte Jula das Gesicht gegen den Bruchboden hinüber, aus dessen matter Wasserhelle die kleinen Moosbüschel wie struwelige Koboldköpfe herauslugten.
Die Stille der Nacht.
Auch die Frösche schliefen und sangen nimmer.
Da klang in weiter Ferne ein Murren wie vom Donner eines nahenden Gewitters.
Doch die Höhe war wolkenlos, die Sterne glänzten ruhig und schön.
Herr Peter Pienzenauer war mit dem Rehbock heimgekommen ins Stift. Und da hatten die Chorherren noch einmal die neue Kammerbüchse im Hirschgraben gelöst, um den Pulverblitz in der Nacht zu sehen.
5
Schon zeitig am Morgen fingen die Herren wieder zu schießen an. Siegwart von Hundswieben, Gesicht und Hände wie von Ruß geschwärzt, glich einem Betrunkenen in seiner Freude an diesem Gedonner und Rauchgewoge, das über die Firste des Stiftes emporwirbelte, als wäre die klösterliche Stätte verwandelt in eine kriegerische Brandstatt. Der Übermut des jungen Hundswieben steckte die andern Domizellaren, sogar die älterem Chorherren an. Nicht minder lustig waren die neugierigen Leute, die sich auf der Straße um die Mauer des Hirschgrabens drängten und das Zugucken nicht satt bekamen. Ein paar Furchte same rannten freilich erschrocken davon, als der junge Hundswieben Belagerung spielen wollte und die mit einer kinderkopfgroßen Steinkugel geladene Kammerbüchse gegen die Straßenmauer richtete. Ein banger Schrei der vielen Menschen, ein Rückwärtsweichen und Auseinanderfluten. Dann läutete die Annasusanne — wie Hundswieben sein bedenkliches Spielzeug