Onnen Visser. Sophie Worishoffer
Würdenträger wollte sich wieder entfernen, höchstwahrscheinlich um sich die zweite Hälfte seiner riesigen gebratenen Scholle zu Gemüt zu führen, dann aber wandte er plötzlich den Kopf, der lächelnde Ausdruck des Gesichtes verschwand, auch die Stimme klang sehr ernst.
»Hört, Leute!«
Eine allgemeine Stille folgte dem lauten Sprechen und Lachen, das eben noch die Menge beherrscht hatte, jeder einzelne horchte.
Der Vogt hob warnend den Finger. »Wenn sich der Halunke, der Peter Witt hier zeigen sollte, so darf ihm persönlich kein Leid geschehen. Berührt ihn nicht, Leute, krümmt ihm kein Haar!«
»Allstunds, Vogt. Wir verstehen dich vollkommen. Bis Klaus Visser und Heye Wessel, die besten Männer von Norderney, da oben auf der Schanze sterben, hat es Zeit.«
Der Vogt nickte und ging dann seines Weges; Peter Witt fühlte, wie ihm die Zähne im Fieberfrost gegeneinander schlugen. Er wurde behandelt wie ein Abwesender, ein Toter, man übersah geflissentlich, daß er zugegen war.
Der Halunke! hatte ihn der Vogt genannt, er knirschte heimlich; ein Gedanke, feige und falsch wie seine ganze Seele, gewann in ihm die Oberhand. Für Geld würden die Leute schon gefällig werden – der reiche Mann war er ja immer noch, auch wenn das Haus fehlte.
An der anderen Seite wohnte ein Bäcker; er ging hinüber und warf mit hochfahrendem Wesen ein französisches Goldstück auf den Zahltisch. »Gib mir das Brot da, Nachbar!«
Der Bäcker pfiff leise vor sich hin. Als sei er allein im Laden, nahm er einen Handbesen und fegte über den Tisch, wobei die Münze ihrem Eigentümer klirrend vor die Füße fiel, dann wandte er sich zu denen, die von draußen her Kopf an Kopf in die offene Tür hineinsahen, und sprach mit ihnen, als habe er den Fordernden gar nicht bemerkt.
»Ich will Brot kaufen!«, rief dieser, jetzt völlig aus der Fassung gebracht.
Die Leute plauderten fort; Hitze und Kälte wechselten unaufhörlich in den Adern des Verräters, er hatte ein Gefühl, als müsse er ersticken. Sobald er sich der Tür näherte, traten die Versammelten beiseite; man ließ ihn hindurchgehen ohne ein Wort, eine Bewegung, wie der Wind ungehindert passiert, wo immer er mag.
Peter Witt erkannte jetzt, wie es um ihn stand. Er war geächtet.
Ja, geächtet. Es würde ihm niemals möglich sein, die frühere Stellung unter den ehrlichen, aber derben Norderneyern wiederzugewinnen.
Und doch beherrschte ihn, je länger, desto mehr, eine leidenschaftliche Sehnsucht, sich auszusprechen, von irgendeinem Menschen das Wort der Teilnahme, wenigstens überhaupt eine Antwort zu hören; er hatte schon den Verlust des Hauses ganz übersehen, er dachte nur mit Grauen an das Alleinsein, zu dem ihn die Leute zu verurteilen schienen, an die Notwendigkeit, fernerhin das Schicksal des Ausgestoßenen zu ertragen; eine wahre Todesangst kroch in sein feiges Herz.
»Sie werden ja nicht alle so hartnäckig sein«, dachte er. »Ich muß es nur einmal an einer anderen Stelle versuchen.«
Und er bog in eine Nebenstraße, er fragte eine Frau, ob sie seinen Sohn oder die alte Haushälterin nicht gesehen habe.
Keine Antwort.
Immer mehr wuchs die Bestürzung des Verräters. »Adam!« rief er, »Adam, wo steckst du, Junge?«
Und dann begann er ziellos über die Insel zu schweifen. Ein Gedanke blitzte plötzlich auf in seiner Seele – die »Hexe« würde mit ihm sprechen; böse Worte vielleicht, aber doch etwas, doch Laute, die für ihn bestimmt waren. Dies Schweigen ertrug er nicht länger.
Der Mond schien mit schwachem Licht vom Himmel herab; geräuschlos gleitend schlüpfte Peter Witt hinaus in die Dünen, von Kamm zu Kamm, von Schlucht zu Schlucht, spähend und horchend, mit immer heftiger jagenden Pulsen, mit kaltem Schweiß vor der Stirn.
»Aheltje! Aheltje!«
Niemand antwortete. Wollte auch die »Hexe«, die verachtete ausgestoßene Zauberin nichts von ihm wissen, oder war sie nicht zugegen?
»Aheltje! Aheltje!«
Es blieb alles stumm, er sah nichts, hörte nichts; nur der Wind strich kalt um seine glühende Stirn.
An der ändern Seite erhoben sich die Segel und Masten der Hortense. Da, im Innern des französischen Schiffes, lagen gefesselt und zum Teil verwundet, des nahen Todes gewärtig vier Männer, deren keiner ihn jemals beleidigt oder beeinträchtigt hatte, vier Familienväter, die nun demnächst hingerichtet werden und ihre Frauen, ihre Kinder des Schutzes beraubt, vereinsamt und unglücklich zurücklassen mußten, verraten von dem, der ihr Landsmann war, ihr Berufsgenosse, der viele Jahre lang Seite an Seite mit ihnen gelebt und die Gefahren der See geteilt hatte.
Und er murmelte vor sich hin, er sah mit trockenen brennenden Augen hinüber zu dem Schiffe, als spreche er mit den Gefangenen.
»Ich wußte ja von dem Todesurteil nichts! – Ich dachte nur, daß der Kaffee weggenommen würde – die paar Pfund Bohnen! Ihr seid ja nicht arm.«
Eine Möwenschar segelte über ihn hinweg; die schrillen Stimmen ließen ihn erschreckt zusammenfahren. Was riefen sie doch ? – »Zu spät! Zu spät!«
Er sah noch einmal um sich. Er konnte es hier in der Einöde nicht länger aushalten; wie gejagt lief er hinab in das Dorf und zu der Stelle, wo bis jetzt sein Haus gestanden hatte. Das letzte Glimmen und Glühen war erloschen, die Straße leer; Peter Witt dachte zum erstenmal mit wirklicher Sorge an seinen Sohn. Wo hatte der Knabe ein Unterkommen gefunden?
Da schimmerte ihm aus dem Schuppen ein Lichtstrahl entgegen; er kletterte hastig über die halbverkohlten Balken und sah in das einzige kleine Fenster hinein. Dies Gebäude war sein Eigentum, niemand durfte ihn hindern, es zu betreten.
Drinnen saß auf einem Holzschemel die alte Frau Olters, während Adam neben ihr auf einem Haufen Stroh lag und, wie es schien, in sehr guter Stimmung eine Wurst verzehrte, die er zu größerer Bequemlichkeit an einem Ende gepackt hielt und ohne Beihilfe von Messer und Gabel mit den Zähnen zerriß.
Leise öffnete der Verräter die eingeklinkte Tür; Frau Olters schrie laut auf vor Schreck. »Na, endlich kommt Ihr, Herr! Und wie seht Ihr aus! Ist Euch die Hexe begegnet?«
Peter Witt ließ sich schwer auf das Stroh fallen; er schauderte. »Gebt mir etwas Warmes zu trinken, Frau. Ach, es ist so öde hier, so schrecklich!«
»Heye Wessels Sohn hat den ersten Brand in das Haus geworfen, Vater!«
»Schweig!« murmelte voll inneren Grauens der Verräter. »Ich will trinken!«
Die alte Frau brachte ihm Kaffee, den er, von Fieberfrost geschüttelt, hastig verschluckte. »Olters«, sagte er dann, »hier kann man nicht wohnen. Geh sie aus und suche sie ein paar Stuben zu mieten, ich bezahle alles.« Aber die Wirtschafterin zuckte die Achseln. »Das nützt nichts, Herr, ich hab‘ es gleich versucht, als uns das erzürnte Volk aus dem Hause vertrieb, aber ganz umsonst. Niemand gibt euch Unterstand, auch nicht der ärmste Fischer, ich weiß es gewiß.«
Peter Witt schwieg, er dachte an den Bäcker, welcher sein Goldstück vom Zahltisch gefegt hatte, an die stumme eilige Bewegung, womit das Volk vor ihm wie vor einem Pestkranken zurückwich. Er ließ die Unterlippe hängen und sah starr ins Leere.
»Wie einer, den der Blödsinn gepackt hat!« dachte Frau Olters.
5
Einige Straßen weiter schimmerte hinter verhüllten Fenstern das Licht einer Lampe. In seinem Bett lag Onnen, die Augen waren weit offen, das Gesicht glühte, die Hände irrten unruhig auf der Bettdecke umher. Er flüsterte fortwährend.
Neben ihm saß seine unglückliche Mutter, stumm, fast erliegend unter der Wucht des hereingebrochenen schweren Schlages. Sie dachte kaum ganz klar und nur, wenn sich ihr Sohn im Bette aufzurichten versuchte, schien sie für Augenblicke aus der gänzlichen Versunkenheit des Schmerzes zu erwachen. Ihre sanfte Stimme beruhigte das Fieber, ihre Hand legte nasse Tücher auf des Knaben Stirn, sie sprach ihm freundlich zu, wenn er durchaus aufstehen und davonlaufen wollte.
»Hörst du denn nicht, Mutter? – Es ist des Vaters