Onnen Visser. Sophie Worishoffer
mein Herr. Der Ortsgeistliche mag die Gefangenen besuchen, so oft er will, und auch der Prediger Ihres Schiffes soll jederzeit Zutritt erhalten.«
Der Engländer verbeugte sich kalt. Monsieur Jeannesson war ihm vollständig gewachsen, er hatte von Anfang her den Plan durchschaut und erkannt, daß es sich nur darum handelte, Zeit zu gewinnen und erst einmal die Verstärkung von Helgoland herbeikommen zu lassen, um dann womöglich gegen das französische Schiff einen Handstreich zu unternehmen. Als oberster Beamter des Kaisers durfte er das nicht zugeben.
»Ich habe die Ehre, mich Eurer Exzellenz zu empfehlen«, sagte mit verbissenem Grimm der arg getäuschte Engländer.
»Leben Sie wohl, mein Herr!«
Draußen sahen die dichtgedrängten Gruppen der Insulaner sogleich, daß alle Versuche ihrer Bundesgenossen vergeblich geblieben waren. Die Gesandtschaft begab sich unter demselben französischen Geleite, das sie vom Landungsplatz bis zum alten Badehause gebracht hatte, wieder an Bord ihres Fahrzeuges zurück – jetzt konnte jede Hoffnung als erloschen betrachtet werden.
Es war mittags zwölf Uhr, und am folgenden Morgen mit Sonnenaufgang sollten die Gefangenen den Tod erleiden.
Monsieur de Jeannesson stand am Fenster und sah hinaus; seine Seele war voll Trauer und Aufregung.
»Lauter fremde Gesichter«, dachte er, »Erscheinungen, die ich sonst niemals bemerkt habe. Ach, mein Gott, wenn Unruhen ausbrächen!«
Er rief seinen Privatsekretär herbei, und dieser ließ einen der vielen immer im Dienst befindlichen Spione kommen. »Sind Schiffer von den anderen Inseln hier auf Norderney angelangt?« fragte etwas hastig der Präfekt.
Die Antwort erschreckte ihn heftig. »Mehr als fünfhundert Männer, Exzellenz. Die von Juist, von Baltrum und Langerog sind geradezu sämtlich hier und von Borkum wenigstens die Hälfte.« »Bewaffnet?« fragte der Präfekt.
»Das glaube ich kaum, aber in der ›grooten Leegte‹, jenem langgestreckten Dünental unten am anderen Ende der Insel, hat eine Versammlung stattgefunden.«
»Heute? Waren die Norderneyer dabei?«
»Beides, ja.«
»Und Sie hörten, was gesprochen wurde?«
»Leider nicht. Man hatte nach allen Seiten Wachen ausgestellt.« »Ah – also eine vollständige Organisation! – Ich lasse den Herrn Obersten bitten.«
Der Gerufene kam herbei und nun fragte ihn Monsieur de Jeannesson, über wieviel Soldaten er gebiete.
»Alles in allem etwa siebenhundert Mann, Exzellenz.«
»Dann können wir es durchaus auf keinen Kampf ankommen lassen – ich will auch jedes unnötige Blutvergießen strengstens vermeiden. Herr Oberst, Sie haben die Güte, Ihre Leute in einer Stunde antreten zu lassen.«
Der »Schinder« verbarg kaum seine innere Freude. »Exzellenz«, sagte er, »mir sind verschiedene Mitteilungen zu Ohren gekommen; ich weiß, wer außer den Gefangenen noch an der Schmuggelei —«
Der Präfekt unterbrach ihn. »Das lassen Sie ruhen, Herr Oberst. Mein Gott, ist es denn des Unglücks noch nicht genug?«
Oberst Jouffrin strich den Schnurrbart. »Ich habe meine Spione«, sagte er. »Es wurde in den Dünen eine Versammlung abgehalten – ich kenne den Rädelsführer. Er ist ein Mann, der auf dem Watt mit den übrigen kämpfte und dann glücklich entkam.«
Der Präfekt schüttelte abwehrend die Hand. »Ich mag nichts von ihm wissen, Herr Oberst, nur Meutereien will ich verhindern. Die Soldaten müssen während der ganzen Nacht unter dem Gewehr bleiben. Jetzt schicken Sie jemand aus, um nachsehen zu lassen, ob sich die Einwohner irgendwo zusammengerottet haben oder anscheinend zufällig auseinandergegangen sind.«
Der Oberst verschwand sogleich. Die Hoffnung, auf friedliche Bürger schießen zu lassen und unter Wehrlosen ein fürchterliches Blutbad anzurichten, diese widerwärtige Hoffnung erfüllte das Herz des »Schinders« mit solcher Freude, daß er nicht nur einen, sondern sechs Spione ausschickte, um in den Dünen nachzuforschen und womöglich einen erwünschten Bescheid zu bringen.
Uve Mensinga kannte einen dieser Elenden, denselben, der ihn dem Obersten denunziert hatte; er erschrak, als er ihn zum zweitenmal sah. »Wir sind verraten«, bebte es über seine bleichen Lippen. »Swen Auckens hat uns beobachtet.«
»Wieso verraten?« fragte ein riesiger Borkumer. »Sollte man nicht mehr in den Dünen zusammenkommen dürfen?«
»Ich fürchte, nein.«
»Das wollen wir erst abwarten. Wenn morgen früh die Gefangenen zum Richtplatz geführt werden, so kostet es nur geringe Mühe, sie zu befreien und an Bord des Engländers zu bringen. Schadet nicht, ob auch ein paar der Unsrigen fallen – den Herren Franzosen ist dann doch ihr Henkersgelüste versalzen.«
»Laßt uns nur einstweilen auseinandergehen. Swen Auckens hetzt uns sonst noch heute die Soldaten auf den Hals.«
Ein Teil der Männer suchte Verstecke in den unzugänglichsten Dünen, ein anderer in den Hütten der Insulaner – bevor aber die ›groote Leegte‹ verlassen war, hatte der Oberst den Bericht seines Spions erhalten und dieser lautete: »Sie sind immer noch da!«
Trommeln rasselten und Gewehre wurden bei Fuß genommen. Der Präfekt hielt den Leuten vor dem Badehause eine Rede.
»Es wird von einem Tambour und einer Abteilung Soldaten in allen Straßen bekannt gemacht, daß sich die Fremden vor Abend von der Insel zu entfernen haben«, sagte er. »Hilft das nichts, so müssen die Leute zwangsweise in die Boote geschafft werden, aber alle Feindseligkeiten sind zu vermeiden.«
Oberst Jouffrin richtete sich höher auf, seine Augen blitzten trotzig. »Um Verzeihung, Exzellenz«, sagte er mit ärgerlichem Tone, »ich bin zur Zeit hier auf Norderney der Höchstkommandierende und habe, soviel mir bekannt ist, von den Herren Zivilbeamten keine Vorschriften zu empfangen.«
Monsieur de Jeannesson nickte. »Im allgemeinen nicht, Herr Oberst, aber in diesem besonderen Falle unter allen Umständen. Ich übernehme die Verantwortung.«
»Das kümmert mich wenig. Widersetzt sich die Meute, so lasse ich dazwischenschießen.«
Der Präfekt zuckte die Achseln. »Mein Bericht an den Kaiser würde dem ersten derartigen Versuch auf dem Fuße folgen, Herr Oberst. Es käme dann so manches, was in Norden geschah, gleich mit zur Sprache – jetzt wählen Sie!«
Der Oberst bezwang mühsam das Erschrecken, welches ihn packte. »Ich verstehe nicht«, stammelte er, »was ist gemeint?«
»Soll ich es Ihnen hier vor der Front Ihrer Soldaten sagen, mein Herr?«
Der Oberst zuckte die Achseln. »Irgendeine Kleinigkeit«, rief er spöttisch lachend. »Auch mein Bericht an den Kaiser wird nicht ausbleiben, Exzellenz!«
Dann ließ er die Soldaten in geschlossenen Gliedern gegen die Dünen vorrücken, sehr zum Vorteil aller derer, welche sich von den Nachbarinseln auf Norderney zusammengefunden hatten, um in Gemeinschaft mit den Eingeborenen die Gefangenen zu befreien. Während das Militär die Sandwüsten durchsuchte, saßen die fremden Schiffer in den Kellern und Schuppen der Norderneyer, auf Böden und Höfen versteckt, alle mehr oder minder bewaffnet und fest entschlossen, den Bedrückern des Vaterlandes das Gelüst nach Hinrichtungen gründlich auszutreiben.
Es war eine Revolution im kleinen, eine vollständige Verschwörung, welche Uve Mensinga und Georg Wessel, der Sohn des Gefangenen, in zwei Tagen geschürt und zu Wege gebracht hatten.
Mochten sie kommen, die Henkersknechte, es sollte ihnen ein heißer Empfang zuteil werden, eine Begrüßung, welche sie so bald nicht wieder vergessen würden.
Ein Flüstern und Raunen flog von Mund zu Mund, von Hütte zu Hütte. Einer half dem anderen, alle Hände hatten sich aufgetan, um das Werk zu fördern – wie ein einziger Mann erhob sich die Bevölkerung gegen das geplante Verbrechen der Franzosen.
Hin und her schlichen die Spione; Monsieur de Jeannesson, der Präfekt, erfuhr alles. Es gibt ja ehrlose Geschöpfe zu allen Zeiten und unter allen Völkern; auch auf Norderney lebten solche Personen, und eben