Onnen Visser. Sophie Worishoffer
– welch eine Verzweiflung mußte dann unausbleiblich an die Stelle dieser freudigen Zuversicht treten!
»Sieh nach deiner Schwester, mein Junge«, sagte er, indem er dem stattlichen Burschen die Hand drückte, »und wenn du vor deinem Vater stehst, so lasse dir nichts anmerken. Er hat sich mühsam durchgekämpft bis zur Ruhe; du darfst sie ihm nicht stören!«
Georg nickte. »Ich will mich zusammennehmen, Herr Pastor, gewiß, ich will es. Aber wenn wir losschlagen, müssen Sie dabei sein! Sie kennen doch meines Vaters Stimme? Ein Löwe muß vor ihm die Segel streichen. Ach, wie wird er ins Zeug gehen, wenn die kleinen Gaskogner vor uns davonlaufen gleich aufgescheuchten Hasen!«
»Stille, stille – du lobst den Tag vor dem Abend und das tut niemals gut!«
Er überzeugte sich, daß das junge Mädchen unter den Händen der Wirtschafterin zum Bewußtsein zurückgekehrt sei, und dann ging er fort, um auch die Frau des Kapitäns aufzusuchen und ihr das schwere Schicksal nach Möglichkeit tragen zu helfen. Georgs Begeisterung tat ihm weh, er wußte nicht weshalb, aber das Gefühl war unabweislich.
In dem niederen Zimmer des Visserschen Hauses traf er eine ganz andere Szene. Frau Douwe schien zu wissen, weshalb er kam, sie stand aufrecht neben dem Tische, ruhig und gefaßt, aber bleich wie der Tod, selbst ihre Lippen waren weiß – unverwandt sah sie dem Eintretenden entgegen.
Er grüßte sie ohne viele Worte, nur mit den Augen, den Händen, dann schloß er die Tür des Nebenzimmers, wo Onnen im sanften Schlummer der Genesung lag.
»Er braucht nicht zu hören, was wir sprechen, meine gute Frau Visser«, sagte er leise. »Ich bringe Euch von unserem lieben alten Klaus die herzlichsten Grüße!«
Frau Douwe nickte. Alles an ihr schien wie versteinert, sie klagte nicht, weinte nicht, aber aus dem blassen Gesicht sprach ein so furchtbarer Jammer, daß es den Geistlichen im tiefsten Herzen rührte. »Ihr dürft zu ihm kommen, liebe Frau Visser«, fuhr er fort, »jetzt gleich. Der Kapitän läßt Euch bitten.«
Die arme Frau nickte. »Ich will‘s tun, Herr Pastor. Ich will hingehen, Klaus soll mich stark finden in der Stunde des Abschieds.«
Der Prediger faßte sanft ihre arbeitsharte Hand; seine Stimme bebte. »Weint, arme Frau«, sagte er halblaut, »weint, damit Euch das Leid nicht überwältige. So viel Ruhe ist unnatürlich!«
Frau Douwe schüttelte den Kopf. »Das darf ich nicht, ehrwürdiger Herr! Ach, Ihr wißt nimmer, wie sehr ich mich nach den Tränen sehne, aber sie müssen doch im tiefsten Herzen bleiben, sonst würfe mich der Jammer zu Boden, ließe ich ihn erst einmal aufkommen.«
Sie nahm ihr Tuch und zog es durch die Hand; der Prediger sah wohl, daß sie sich kaum aufrechthielt. »Soll ich Euch begleiten, arme Frau?« sagte er freundlich.
Sie nickte. »Wenn Ihr die Güte haben wollt, Herr Pastor!«
Dann öffnete sie die Tür der angrenzenden Kammer. Im Bette lag Onnen und schlief ruhig; auf seine Wangen war die Röte der Gesundheit zurückgekehrt und nur ein schmerzlicher Zug um die Lippen bewies, daß er sich im Traume wie im Wachen mit dem trostlosen Schicksal seines Vaters beschäftigte. Jetzt drehte er den Kopf. »Hier bin ich!« murmelte er. »Vater! – Vater!«
Frau Douwe streckte die Hand aus. »Für ihn ist‘s, daß ich nicht weine, Herr Pastor, daß ich so ruhig umhergehe und tu‘, als könnte es mir nichts anhaben. Ich muß ja leben um des armen Jungen willen!«
In diesem Augenblick erwachte Onnen; er richtete sich hastig auf, sein hübsches Gesicht wurde sehr bleich. »O, Herr Pastor«, rief er, »haben die Franzosen – ist —«
»Sei ganz ruhig, mein Junge«, beschwichtigte ihn der Prediger, »es ist bis jetzt nichts geschehen. Schlafe nur, das bringt dir am ersten die Gesundheit zurück.« Aber Onnen schüttelte den Kopf. »Ich möchte gerade jetzt aufstehen«, antwortete er, »ich fühle mich ganz wohl. Willst du ausgehen, Mutter?«
Sie nickte nur. »Frau Raß bleibt bei dir, mein Kind. Ich komme bald wieder.«
»Wohin gehst du denn, Mutter?«
»Mit mir!« versetzte gelassen der Prediger. »Leb‘ wohl, mein guter Junge.«
Er schloß die Tür und führte dann freundlich tröstend die gebeugte Frau bis zum Ufer, wo ein Boot der Franzosen sie aufnahm und an das Schiff brachte. Ein Grauen lief durch alle ihre Adern, als sie die Masten der »Hortense« sah. »Herr Pastor«, flüsterte sie, »es ist mir just, als müsse das Herz in Stücke brechen!«
Er drückte nur leise ihre Hand. »Gott geleite Euch, arme Frau – ein Mensch, ein Freund, und wenn er es noch so redlich meint, kann da nicht tragen helfen!«
Das Boot glitt über die Wellen und einige Minuten später war vom Bord der »Hortense« ein Stuhl herabgelassen, um die alte Frau aufzunehmen.
Die Schiffstreppe war dunkel; ein Unteroffizier führte an seiner Hand die alte Frau in den Raum hinab zu dem bedauernswerten Manne, dessen Weib sie seit länger als einem Vierteljahrhundert gewesen und dessen Stimme sie nun zum letztenmal hören sollte. Frau Douwe ging aufrecht, festen Schrittes, aber sie wußte kaum, was um sie her geschah, es lag wie ein Nebel vor ihren Augen.
Den Gefangenen waren die Fesseln abgenommen worden; der Kapitän konnte, obwohl er nicht aufzustehen vermochte, doch seiner Frau die Hände entgegenstrecken – er sprach kein Wort, ihm war es, als werde seine Kehle von einer Eisenfaust zusammengepreßt.
Die beiden Kinder Heye Wessels befanden sich bei ihrem Vater; Amke weinte angstvoll vor sich hin und auch Georg hatte hier im Innern des französischen Schiffes seine frühere Zuversicht völlig verloren. Der beabsichtigte Handstreich konnte doch immerhin mißlingen oder das Leben der Gefangenen im Tumult gefährdet werden, jetzt erst fiel‘s ihm ein und verjagte aus seinem jungen Herzen den Siegesrausch, in welchem er bisher schwelgte. Auf seiner Stirn standen große Tropfen, er kämpfte mit den mächtig heraufquellenden Tränen.
Der Engländer Malcolm stützte den Kopf in die Hand, Lars Meinders schrieb an seine junge Frau einen Abschiedsbrief, den ihm Amke besorgen wollte – nur leises Weinen, die Laute der bittersten Trauer klangen durch den halbfinsteren Raum!
»Eins versprichst du mir, Mutter«, bat der Kapitän, »Onnen soll niemals schmuggeln! Und wenn die gegenwärtigen Verhältnisse noch jahrelang andauern – er soll sich an dem Schleichhandel nicht mehr beteiligen. Willst du ihm das sagen als letzten Gruß von mir?«
»Ja, Vater!«
Er küßte liebevoll ihre blassen zuckenden Lippen. »Es ist nur eine kurze Strecke Weges, Mutter – dann sind wir wieder vereint. Im Alter gehen ja die Jahre so schnell, weißt du, und vorläufig braucht dich unser Junge noch sehr notwendig – du mußt leben für ihn, meine arme Douwe!«
»Ja! – Ja!«
Er beugte sich näher zu ihr. »Mutter, hast du es mir recht von Herzen verziehen, daß ich gegen deinen Willen auf den Schmuggelhandel ging? Sag mir‘s, grollst du nicht?«
Da sah sie ihn an. »Ich – dir? Ach, Klaus, zuweilen war ich heftig, hab‘ als junge Frau in früheren Tagen meine Launen gehabt – heut tut mir‘s so weh, daran zu denken. Ich möcht‘, ich wär‘ eine bessere Frau gewesen.«
Er streichelte ihr runzelvolles Gesicht. »Uns waren friedliche, glückliche Jahre beschieden, Mutter, wir lebten einträchtig und hatten unser gutes Auskommen – du bist die beste vortrefflichste Frau, welche ich jemals kennengelernt und warst es immer.«
Er zog von der rechten Hand den Trauring und gab ihn der unglücklichen Frau. »Da, Mutter, du hast ihn mir als junge Braut geschenkt und er begleitete mich seitdem in alle Häfen der Erde, in Not und Tod – nun trage den treuen Gefährten zur Erinnerung an mich – willst du das?«
Frau Douwe konnte nicht antworten, ihre mühsam behauptete Kraft brach zusammen. Als der Ring nicht mehr am Finger des Kapitäns steckte, sank sie lautlos in tiefer Ohnmacht zurück.
Klaus Visser seufzte schmerzlich. »Georg, mein Junge«, sagte er, »komm her und erbarme dich meiner armen Alten. Der Abschied wird nur schwerer, je länger wir ihn hinausschieben; geht, Kinder, und Gott sei mit euch!«
Heye