Onnen Visser. Sophie Worishoffer

Onnen Visser - Sophie  Worishoffer


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was da unten vorgeht? Man raubt Leichen, wie mir scheint.«

      Monsieur de Jeannesson nickte kalt. »Ich sehe es, Herr Oberst.«

      »Ah! – und auch das soll hingehen, wenn man fragen darf?«

      »Ich denke ja. Es gibt meines Wissens kein Gesetz, das mich zwingt, die armen Leute auch noch ihrer Toten zu berauben. Mögen sie dieselben in Gottes Namen auf den Kirchhof bringen und dort zur ewigen Ruhe bestatten.«

      »Das heißt doch – uns trotzen, sich widersetzen?«

      Der Präfekt suchte den Blick des ergrimmten Offiziers. »Ich glaube, es heißt nur Mensch sein, Herr Oberst. Durch mich sollen die Leute nicht gestört werden.«

      Der Oberst ging mit hallenden Schritten davon. Monsieur de Jeannesson konnte auch gegen den Besiegten noch Milde und Nachsicht walten lassen, er wurde überall geachtet und geschätzt – dafür haßte er ihn.

      Am Watt und etwas später auch im Dorfe entwickelte sich unterdessen eine lebhafte Szene. Sechs oder acht Männer hoben aus dem kaum zugeworfenen Grabe den Sand, während ebensoviele auf dem kleinen Gottesacker die neue gemeinschaftliche Gruft wieder öffneten. Eine fieberhafte Tätigkeit herrschte auf der ganzen kleinen Insel.

      Gärten oder Gebüsche, wie sie jetzt vor den meisten Häusern befindlich sind, gab es damals zwar nirgends, aber auf den Dünen wuchs, gesät von der gütigen Hand der Natur, manch bescheidenes Blümchen, das sich zum Kranze wohl verwenden ließ, die Dünenrose, die Meerstrand-Männertreu, die Bergnelke, das Veilchen u. a. Nebenbei aber zeigt, wo deutsche Frauen wohnen, jedes Fenster seinen Blumenflor, und diesen plünderten die Norderneyerinnen bis auf die letzte Blüte, um damit das Grab der unglücklichen Opfer zu schmücken.

      Kranz nach Kranz wurde im Fluge gebunden, ganze Körbe voll Blumen herbeigetragen, während die Männer anfingen, vorsichtiger zu graben. Eine Hand ragte aus dem Sande hervor – man hatte das Bett der Toten erreicht.

      Weiße saubere Leintücher wurden ausgebreitet, liebevolle Hände wuschen die Gesichter der kaum Erkalteten. Jedes gab, was es zu geben hatte, Wagen, Bahren, Wäsche, Blumen – ihre Tränen, ihre Gebete alle – alle.

      Särge ließen sich nicht beschaffen, das war unmöglich. Noch einmal gingen in langer Reihe die Insulaner vorüber an den Leichen ihrer Freunde und denen der Engländer, noch einmal berührten sie die über der durchschossenen Brust gefalteten Hände zum letzten Abschied, dann wurde das Leintuch zusammengeschlagen und der imposanteste Leichenzug, den die Insel vorher oder nachher gesehen, nahm seinen Anfang.

      Der Weg von der Gegend des heutigen Hotel Bellevue bis zum Gottesacker im Schatten der Kirche ist ziemlich lang, aber dennoch war er bedeckt mit Blumen. Alle Kinder gingen voraus und bestreuten die Straße, welche der Zug passieren mußte; in den Häusern blieben nur die, deren Schmerz zu groß war, zu schrecklich, um ihn den fremden Blicken preiszugeben – Frau Douwe, das junge Weib des Wattführers und Amke Wessel, die ihr Gesicht mit beiden Händen bedeckte, um nur nicht den Leichenzug sehen zu müssen.

      Auch ein Mann blieb zurück – Peter Witt, der Verräter. Er kauerte im dunklen Winkel seiner Wohnung und murmelte immer vor sich hin, obgleich ihn niemand hörte.

      An der Pforte des Friedhofes empfing der Geistliche die sieben Leichen. Er hatte diese Männer sterben sehen, er wußte, daß ein schneller sicherer Tod von der Hand der geübtesten Schützen ihren Leiden ein rasches Ziel gesetzt hatte – jetzt leuchtete aus seinem Antlitz eine hohe Freude.

      Er durfte an dem Grabe in geweihter Erde den Segen der christlichen Kirche sprechen, er wußte die besten Bürger seiner Gemeinde nicht länger wie gefallene Tiere an der offenen Heerstraße verscharrt.

      Die Rede, welche er hielt, war ohne Vorbereitung nur aus dem Herzen herausgesprochen, aber sie lockte dennoch Tränen in aller Augen. Des Vaterlandes Schmach und Unglück fühlte jeder einzelne gleich schwer; das Weh dieses Tages durchbebte jede Brust.

      Hochgeschichtet, das ganze Grab ausfüllend, türmten sich die Kränze der Frauen. Um den Hügel standen zunächst die Angehörigen, die vertrautesten Freunde der Verstorbenen, dann im weiten Kreise die Gefährten früherer Tage, die Nachbarn und Berufsgenossen, viele Hunderte, die sämtlich gekommen waren, um den Vielbeweinten, den Opfern der fremden Tyrannei das letzte Geleite zu geben.

      Der Prediger ließ die Kirchtüren öffnen und, nachdem seine Rede beendet war, den Küster die Orgel spielen.

      Hell und tröstlich klang es über den Gottesacker dahin, erst leise, dann immer stärker, gewaltiger erschallend:

      »O wie selig seid ihr doch, ihr Frommen,

      Durch den Tod seid ihr zu Gott gekommen!

      Ihr seid entgangen jeder Not,

      Die uns noch hält gefangen!«

      So manche Stimme brach im Schluchzen. »Die uns noch hält gefangen!« – Das war in wenigen Worten das Schicksal des gesamten Vaterlandes. Französische Soldaten spielten die Gebieter in jedem Hause, französische Kanonen beherrschten den Strand, der für das genügsame Völkchen der Insulaner doch täglich den Tisch decken sollte. Sie beteten im Herzen alle, die da sangen, von Tränen unterbrochen, von dem Gedanken an die Gefahren der Zukunft tief gebeugt.

      Und dann kam am frischen Grabe der Abschied. Diese da, die Toten, sollten gerächt werden, so gewiß die Sonne hell vom Himmel herabschien.

      »Wenn der ›Falke‹ vor Baltrum Anker wirft, komme ich und bringe euch Botschaft«, sagte Abel Voß.

      Uve Mensinga nickte. »Er wird uns mit den nötigen Langbooten, mit Kanonen und Munition versehen! Sei still, Onnen, mein Junge, weine nicht, die Franzosen sollen für ihre Untat volle Zahlung leisten!«

      »Und ihr nehmt mich ganz gewiß mit euch, Mensinga? Ihr verlangt nicht, daß ich untätig zu Hause sitze, während ihr kämpft?«

      »Da hast du meine Hand, Junge. Die Rache kommt bald.« Sie trennten sich; die Fremden verließen Norderney und die übrigen kehrten in ihre Häuser zurück, Onnen und Georg Wessel erst dann, als sie einander geschworen hatten, zusammen im Kampfe gegen den Todfeind in der vordersten Reihe zu stehen.

      Dem Knaben graute es vor der verödeten Heimat. Die alte Mutter, sonst so rüstig und mutig den Fährnissen des Lebens gegenüber – jetzt war sie gebrochen. Seit jener Stunde, wo ihr der dem Tode geweihte Mann den Ring in die Hand legte, seit jener furchtbaren Stunde war ihr Haar weiß wie Silber.

      Onnen traf sie nicht allein. Die Tante aus Hilgenriedersiel war auf die Schreckenskunde der Gefangennehmung hin nach Norderney geeilt, um womöglich ihren lieben alten Bruder noch einmal zu sehen – aber vergebens. Als sie kam, fielen gerade jene Salven, welche auch seinem Leben ein Ziel setzten; sie konnte nur mit der hart betroffenen Witwe bitterlich weinen, ihres eigenen und des fremden Leides wegen.

      Onnen streckte ihr stumm die Hand entgegen, er brachte kein Wort hervor. Jetzt erst, nun er wieder zu Hause war, in der altgewohnten Umgebung, jetzt erst fühlte er die ganze Schwere des erlittenen Verlustes.

      Onkel Hansen saß noch immer für seinen geflüchteten Sohn im Gefängnis, es kamen des Krieges wegen nur wenig Badegäste, die Schmugglerfahrten waren gänzlich zu Ende und so hielt neben allem übrigen, je länger, desto mehr, auch die bleiche Sorge ihren Einzug in solche Häuser, wo sonst Überfluß herrschte. Frau Antje weinte ihre bitteren Tränen; sie und Jurtke mußten spinnen oder stricken, um nur den Kindern das trockne Brot geben zu können. Es war ein trauriger Abend, den die kleine Familie miteinander verbrachte – und dennoch sollten ihm viel, viel traurigere folgen.

      Kurz nach der vollstreckten Hinrichtung kam eines Tages ein Brief von dem Maire in Norden. Das große amtliche Siegel schien Schlimmes zu verkünden – Frau Douwe zitterte, als sie es erbrach und den Inhalt des Schreibens las.

      Auf Befehl des Kaisers waren sämtliche Güter der Erschossenen dem Fiskus verfallen.

      Die unglückliche Frau verstand nicht gleich, was sie sah, erst das mitleidige Gesicht des Nordener Amtsdieners ließ sie das neue Schrecknis erkennen. Also ausgeplündert – das war es.

      Onnen schrie laut auf. Des Vaters Dreimaster in Bremerhaven, die »Taube«, das Haus


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