Onnen Visser. Sophie Worishoffer
wieder. So, so, du mußt nicht weinen, Kind, dein Bruder ist fast schon ein Mann, er wird dich beschützen und von hier fort zum Onkel nach Marienhafen bringen, nicht wahr, Georg? Adjes, mein Junge, hab‘ immer Gott vor Augen, hörst du! Deine Mannesehre muß dir allezeit heilig sein!«
Ein gepreßtes: »Ja, lieber Vater!« rang sich aus der Brust des jungen Mannes. Er, der vorher so zuversichtlich gewesen, weinte wie ein Kind, er fiel mit beiden Armen seinem Vater um den Hals. »Leb wohl! Leb wohl!«
Der französische Unteroffizier kam und berichtete schonend, daß die Besuchsstunde vorüber sei. Wie im halben Traume reichte Georg dem Kapitän und dem Wattführer die Hand, dann half ihm der Soldat, die ohnmächtige Frau an Deck zu bringen, und alles war vorbei.
Im Herzen des jungen Mannes erhob sich ununterdrückbar eine Stimme, die ihm zuflüsterte, daß er seinen Vater nie – nie auf Erden wiedersehen werde.
Unterdessen stand Onnen am Fenster und spähte auf die Straße hinaus. Seine getreue Hüterin, Frau Raß, war sehr schweigsam, von ihr erfuhr er nicht viel, sondern mußte sich in die Küche schleichen, um Folke Eils zum Sprechen zu bringen.
»Hört mal, Alte, war nicht heute morgen ein fremder Mann hier?«
Sie seufzte kläglich. »Das geht dich gar nichts an, Kind.«
»Aha«, rief er, »nun weiß ich schon genug! Gestern abend schlichen auch Leute in den Holzstall und Ihr habt ihnen eine Mahlzeit gebracht. Das geht gegen die Franzosen – man will den Vater und seine Gefährten heraushauen!«
Er sprang davon. Weder Frau Raß noch Folke Eils konnten ihn halten; wie der Blitz lief er in den Holzraum und atmete tief, als ihm zwei bekannte Gesichter entgegensähen, Baltrumer Fischer, die hier versteckt waren, um morgen in aller Frühe zur Hand zu sein.
»Abel Voß und Tieze Holtmann!« flüsterte er. »Ach, nun bin ich gesund – ich kann mit von der Partie sein. Erzählt mir alles, Leute!«
»Sprich nur nicht so laut. Junge. Überall lauern Spione!«
Und dann berichteten sie flüsternd von dem Plane, den Uve Mensinga und Georg Wessel entworfen hatten. Später kam der letztere selbst hinzu, Onnen erfuhr, daß sein Vater am nächsten Tage erschossen werden solle, aber wie vorher Heye Wessels Sohn, so lebte er sich ganz hinein in den Gedanken einer erfolgreichen Rettung, so berauschte er seine Seele an der Hoffnung auf ein keckes Vorhaben, von dem noch in Ostfriesland die spätesten Zeiten mit Bewunderung sprechen sollten; das bestimmt war, den Franzosen eine derbe Lehre zu geben und in erster Linie des Vaters teures geliebtes Leben vor den Kugeln der Soldaten zu bewahren.
Georg schüttelte heimlich den Kopf. Auf seine jubelvollen Hoffnungen war ein Reif gefallen und hatte sich nicht wieder bannen lassen.
7
Monsieur de Jeannesson stand am Fenster seines Zimmers, regungslos wie ein Steinbild, blaß wie ein solches. Es war noch vollständig Nacht, aber trotzdem lag schon die erste Dämmerung des aufgehenden Tagesgestirnes über der Umgebung – jenes Tages, an welchem sieben Menschen den Tod erleiden sollten, eines Vergehens wegen, das an keinem Orte der zivilisierten Welt den Schuldigen auf das Schafott führt.
Ein hartes ungerechtes Gesetz, eine Maßregel, die wohl geeignet war, den heimlichen Groll der Insulaner bis zu gewalttätigem Ausbruche zu steigern, ihnen die Rebellion gegen das Übermaß der Bedrückung als einziges Rettungsmittel erscheinen zu lassen – Monsieur de Jeannesson fühlte es, er hatte während der ganzen Nacht nicht geschlafen, sondern war immer unruhig im Zimmer auf- und abgegangen, bald mit einer Eingabe an den Kaiser beschäftigt, bald auf den Hof hinausblickend, wo die Soldaten unter voller Bepackung marschbereit standen und lagen.
Es wurde allmählich immer heller und heller. Die Umrisse des Schiffes traten aus der Dämmerung hervor, die Bootsmannspfeife erklang, die Wache wechselte und wieder war alles still. Vier Uhr! – Noch zwei Stunden, dann mußte die Exekution stattfinden.
Hie und da schlich jemand am Badehause vorüber, unverdächtige Gestalten, Frauen und alte Männer, auch selbst Kinder – sie faßten an der damaligen Wassergrenze, der Gegend des heutigen »Alten Deiches« Posto, offenbar in der Absicht, die Verurteilten ein letztes Mal zu sehen, vielleicht ihnen noch ein Wort der Versöhnung, des Friedens zuzurufen, ein Lebewohl auf immer.
Mehr und mehr erschienen, jung und alt, viele trugen Blumen in den Händen, Liebesgaben für die Gräber der Erschossenen.
Jetzt blitzte ein voller Sonnenstrahl über das Wasser dahin – der Tag hatte begonnen. Eine Abteilung Soldaten, begleitet von mehreren Unteroffizieren, rückte aus; die Leute trugen teilweise Schaufeln und Brecheisen auf ihren Schultern. Es war an der Stelle, wo heute das Hotel Bellevue steht, ein Holzschuppen für Heu und Stroh aufgerichtet; hinter denselben, also den am Strande Stehenden unsichtbar, verfügten sich die Mannschaften.
Wieder schlich eine alte Frau vorüber, eine Jammergestalt mit zerfetzten Kleidern und eisgrauem Haar, Aheltje, die Hexe. Man flüsterte, als sie kam, man zog sich eilends vor ihr zurück, als berge die Nähe der armen Alten eine Pestgefahr.
Aheltje nahm von keinem Menschen die geringste Notiz. An ihrer Krücke ging sie bis zu jener Stelle, wo die Boote ankerten, und blieb da ganz allein stehen, ein Bild des Elends, des äußersten menschlichen Verfalles.
Aus der Kombüse des Schiffes wirbelte Rauch empor; man bereitete den Gefangenen das letzte Frühstück. Wie verzweifelt sie sich fühlen mochten, wie sie wohl im innersten Herzen den brutalen Siegern fluchten!
Monsieur de Jeannesson wandte sich ab. Es war schrecklich, Familienväter, arme unwissende Fischer so um eines kleinen Fehltritts willen erschießen zu lassen.
Kurz nach fünf wurde ihm ein Offizier gemeldet. Der Adjutant des Obersten Jouffrin bat um Verhaltungsmaßregeln den Eingeborenen gegenüber, er berichtete, daß in den Dünen hinter der Schanze gegen siebenhundert Bewaffnete versteckt lägen.
Der Präfekt nickte. »Ich weiß es. Kein Soldat betritt das Dorf oder den Strand – es bleibt bei dem, was ich angeordnet habe.«
Der Offizier entfernte sich mit stummem Gruße und wieder trat Monsieur de Jeannesson an das Fenster.
Auf dem Schiff erklang die Trommel, Matrosen und Soldaten bildeten Spalier, einer nach dem andern stiegen die Gefangenen an Deck hinauf und dann in zwei bereitgehaltene Boote.
Die Engländer sahen unwillkürlich nach rechts über das Meer. Ob denn ihre Genossen nichts unternahmen, um sie zu retten?
Blau und sonnenblitzend flutete das Wasser – von den Kriegsschiffen war keine Spur zu entdecken.
Der Kapitän ging zwischen zwei Stöcken; sein zerschmetterter Fuß erlaubte ihm kein festes Auftreten. Er war sehr blaß, aber vollkommen ruhig, ebenso Heye Wessel – die beiden alten Seeleute hatten dem Tode zu oft und aus nächster Nähe ins Antlitz gesehen, sie fürchteten ihn nicht mehr.
Irgendwo läutete ein Glöckchen; man hörte die hellen Klänge weithin durch das Flüstern des Windes und das Geräusch der Wellen. Die Verurteilten gingen des Kapitäns wegen sehr langsam, so daß mehrere Minuten verstrichen, bevor sie den Fußpfad am Ufer (das damals noch keinen Deich besaß) erreicht hatten. In diesem Augenblick trennte sich von der Gruppe des harrenden Volkes ein größerer Knabe und lief, so schnell ihn seine Füße trugen, in der Richtung der Schanze davon.
Monsieur de Jeanriesson sah es. »Er bringt den Bescheid, daß sie kommen«, dachte der wohlwollende Mann. »Ich täuschte mich nicht!«
Und wieder sah er hinüber zum Strande. Die alte Aheltje hatte sich den beiden vordersten Gefangenen genähert, sie streckte dem Kapitän die Hand entgegen. »Ich wollt‘ Euch danken für alles Gute, das ihr an mir armem Weibe getan, Klaus Visser, und auch Euch, Heye Wessel! – Der liebe Gott hört ebensowohl das Gebet der Armen und Niedrigen als das der Großen dieser Welt – und ich bitte ihn für Eure ewige Ruhe aus Herzensgrund!«
»Danke, Aheltje«, antwortete der Kapitän. »Grüßt mein armes Weib, Frau!«
Sie reichten ihr sämtlich die Hand, ungehindert von den französischen Soldaten – Lars Meinders biß die Zähne hörbar zusammen, als er von fern das Dach seiner Hütte schimmern sah –