Onnen Visser. Sophie Worishoffer

Onnen Visser - Sophie  Worishoffer


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Gefangenen gingen nur eine kurze Strecke, dann entschwanden sie den Blicken der erstaunten Menge. Ein Mann lief in fliegender Eile dem früher abgeschickten Knaben nach.

      Als der traurige Zug den offenen Strand hinter dem Schuppen erreicht hatte, bot sich den Verurteilten ein Anblick, der ihnen die unwillkürlich aufgetauchten Zweifel sofort wieder rauben mußte. Etwa fünfzig französische Soldaten standen mit geladenen Gewehren in Reih und Glied – hinter ihnen gähnte ein tiefes, frisch ausgeworfenes Grab, groß genug, um in seinem Schoße sieben Menschen Raum zu gewähren.

      Etwas abseits stand der Prediger in voller Amtstracht. Mit ausgestreckten Armen näherte er sich den einem so schrecklichen Tode geweihten Männern.

      Wo heute der neue Kirchhof weiß und öde im Flugsand liegt, da hoben sich zu jener Zeit weite hohe Dünenketten mit Tälern und Schluchten, Erlengebüschen und Strauchwerk verschiedener Art Kopf an Kopf standen auf dem gleitenden unsicheren Boden die harrenden Männer, alle bewaffnet mit Beilen und Messern, mit Gewehren und Pistolen, alle fest entschlossen, womöglich keinen einzigen Franzosen lebend davonkommen zu lassen.

      Uve Mensinga war als Führer von der ganzen Schar stillschweigend anerkannt; Georg Wessel und Onnen Visser hielten sich dicht an seiner Seite.

      Ein großes Boot der Engländer, ein sogenanntes Langboot, lag hinter der Biegung, welche die Insel an der Stelle der heutigen Schiffsbauerei macht. Etwas weiter hinaus, mitten im tiefen Fahrwasser, sah man das Kriegsschiff, den »Nelson«, unter beigedrehtem Steuer leicht schaukelnd im Sommerwind treiben.

      Die Taschenuhren zeigten auf sechs – eine immer wachsende Unruhe bemächtigte sich der Versammelten. Da nahte ein Knabe, er schwenkte den Hut – das war das verabredete Zeichen.

      »Sie kommen!«

      Onnen zitterte. »Georg, Georg, wenn nun jemand unglücklicherweise die Gefangenen träfe! – Ach, laßt uns lieber nicht schießen!«

      »Sei still, Junge, sei still. Mir ist es, als wolle mein Herz aufhören zu schlagen!«

      Der riesige Baltrumer stand auf einem jener schmalen Grate, die Düne von Düne trennen. »Halloh!« rief er, »es kommt noch ein zweiter Bote.«

      »Was bedeutet das?«

      Sie horchten und spähten sämtlich. Außer Atem übersprang ein Mann die niederen Dünenketten, dann stand er mitten zwischen den Verbündeten. »Leute, sie haben die Verurteilten nach der anderen Seite gebracht – links hinaus!«

      »O Himmel«, rief Onnen, »wenn der Präfekt Gnade verkünden wollte!«

      »Was könnte es anders sein? – Ach, welches Glück!«

      »Ruhig!« rief Uve Mensinga und seine Augen blitzten, seine Stimme klang grollend, als ersticke ihn der Zorn. »Wir sind verraten, sie morden unsere —«

      Er wurde auf furchtbare Weise unterbrochen. Durch die helle Morgenluft klang das Geknatter von Schüssen – drei Salven fielen nacheinander, Pulverdampf wallte auf, dann war alles todesstill.

      Als habe die französische Kugel in jedes einzelne Herz ihren verderbenbringenden Weg gefunden, so schwiegen wie erstarrt die Verbündeten. Das Unerwartete, Entsetzliche lähmte jede Vorstellungskraft, jede Zunge.

      Und leise, leise schlug an ihr Ohr ein anderer Klang – das Armesünderglöcklein. Sie hörten es alle, bis der Schall wie ein Traum zu zerrinnen schien. Nun waren die Verurteilten gestorben – tot – nun war alles zu Ende.

      »Georg!« rief Onnen außer sich, »Georg!«

      »Laßt uns offen hingehen!« schrie der Baltrumer. »Laßt uns das Badehaus in Brand stecken und die Kanaillen mit dem Kolben totschlagen!«

      »Und was würden wir dadurch gewinnen, Leute?«

      »Rache wenigstens!«

      Das Boot der Engländer kam heran. Ein paar Soldaten näherten sich den Schiffern. »Habt ihr die Schüsse gehört? – Diese Halunken, diese Mörder – wenn der ›Falke‹ aus Helgoland wieder hier ist, sollen sie ihre Bezahlung erhalten!«

      »Ach, aber dann ist alles zu spät! – Und wir waren unserer Sache so gewiß!«

      »Laßt uns doch nur erst einmal hingehen!«

      Onnen lief voraus. Und wenn ihm keiner der übrigen gefolgt wäre, so würde er ganz allein zu den französischen Soldaten geeilt sein, ganz allein und nur beschäftigt mit einem einzigen Gedanken: »Ist mein armer Vater erschossen worden?«

      Aber sie begleiteten ihn alle; wie ein entfesselter Strom wälzte sich die ganze Masse gegen den Weststrand hinab und über die damals unbebaute Strecke der heutigen Marienstraße.

      Kein Franzose begegnete den Männern, kein Wachtposten war ausgestellt, nur jammernde Frauen und Kinder umstanden noch immer den Platz, wo die Boote anlegten; sie deuteten alle auf den Holzschuppen, hinter welchem der Zug der Gefangenen vor kurzer Zeit verschwunden war.

      Uve Mensinga nickte. »Es ist, wie ich dachte; man hat absichtlich die Schanze als Richtstätte bezeichnet, um uns irre zu leiten und ohne Störung von außen die Blutarbeit zu vollenden. Da kommt jede Einmischung zu spät!«

      »Wollen wir denn nicht erst hingehen?« rief Onnen. »O mein Vater, mein armer Vater!«

      »Laßt uns losschlagen«, riet der Baltrumer. »Immer hundert Franzosen für jeden Gemordeten.«

      »Das wäre mehr als Wahnsinn, Abel Voß! Die Soldaten haben das Haus als Schanze, sie besitzen volle Deckung, während wir ihnen die unbeschützten Stirnen darbieten müßten. Sollen ohne allen Zweck die tapfersten Männer reihenweise fallen?«

      »Und sollen unsere Freunde ganz ungestraft ermordet worden sein?« »Keineswegs!« raunte Uve Mensinga, »keineswegs! Aber laßt vorerst den ›Falken‹ wieder angelangt sein, laßt uns den Beistand der Engländer besitzen, dann wird die Sache anders. Nur Tollköpfe ohne alle Überlegung könnten die Franzosen im Badehause angreifen.«

      Georg Wessel ballte die Faust. »Ich sollte die Leiche meines Vaters da in ungeweihter Erde liegen lassen und nicht einmal erfahren, wo man sie verscharrt hat? Nie und nimmer, so wahr mir der Himmel helfe! Komm, Onnen, gehst du mit?«

      »Natürlich!« rief flammenden Blickes der Knabe. »Vielleicht haben ja die Toten nicht einmal Särge bekommen!«

      Abel Voß lachte wild. »Särge ? – Särge ? – Wie sie gingen und standen, ungewaschen und ohne Leinentuch sind sie verscharrt worden.«

      Auf Onnens Wangen kam und ging die Farbe, eiskalte Schauer durchbebten seinen Körper. »Komm, Georg«, drängte er.

      Uve Mensinga nickte. »Ich wollte eben den gleichen Vorschlag machen, Kameraden. Wir können natürlich die Leichen unserer Freunde nicht in irgendeinem Winkel, über den die Hunde dahinlaufen, unbeachtet liegen lassen, aber das ist für den Augenblick alles. Zu Feindseligkeiten darf es heute nicht kommen.«

      »Aber wenn die Halunken auf uns schießen?« rief der Baltrumer.

      Uve Mensinga lächelte. »Dann kann‘s meinetwegen losgehen, Kinder.«

      »Hoffentlich!« murmelte Georg. »Gott gebe es.«

      Und nun ordnete sich der Zug, um gemessenen Schrittes den Strand hinter dem Heuschuppen zu betreten. Kein Soldat wurde sichtbar, nur zwei schaurige Zeichen der vollstreckten Hinrichtung boten sich den Blicken der Männer – eine große Blutlache und ein frisch aufgeworfener breiter Hügel.

      »Da! da!« rief Onnen. »Ach, mein Vater!«

      »Still, Junge, still! Spare deine Kräfte für den Tag der Vergeltung.«

      Sie nahmen unwillkürlich die Hüte vom Kopf; eine gewaltige Erschütterung ging durch die Seelen aller. Die da noch warm, noch blutend unter dem Boden lagen, waren ihre Freunde und Verwandten, ihre langjährigen Genossen – und an einem Haar, einem einzigen Haar hing noch vor einer Stunde ihre Rettung. Jetzt hatte der Tod den Sieg behalten.

      Einer nach dem andern näherte sich dem Grabe; die Draußenstehenden, Frauen und Kinder drängten nach, irgend jemand brachte Schaufeln und die traurige Arbeit begann.

      Im Badehause


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