Die Mormonen. Busch Moritz
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Die Mormonen / Ihr Prophet, ihr Staat und ihr Glaube
Erstes Kapitel
Sectenwesen in Amerika
Wenn schon das politische Leben der Vereinigten Staaten eine beträchtliche Anzahl von Erscheinungen zeigt, die dem Fremden erst nach einem tiefern Studium von Land und Leuten einigermaßen verständlich werden, so ist dies bei den Gestalten, in welchen sich hier das religiöse Element ausgeprägt hat, noch bei Weitem mehr der Fall. Lassen sich dort in der bunten Mannigfaltigkeit der Parteien immerhin zwei große Grundmächte unterscheiden, die, zwei Trieben oder Zügen in der menschlichen Natur entsprechend, wie Ebbe und Fluth die Interessen der Gesammtheit tragen und ausgleichen, so entzieht sich das Gewimmel der Secten Amerika's beinahe jeder Eintheilung. Wir haben ein vollkommnes Chaos vor uns, in dem die Stoffe in wildester Weise durcheinandergähren, und vor welchem derjenige, den die Wissenschaft nicht an ähnliche Perioden in der Kirchengeschichte erinnert, an einen Verwesungsproceß des Christenthums glauben kann. Das stupideste Festhalten am Buchstaben der Schrift mischt sich mit den wahnwitzigsten Ausschweifungen der Phantasie. Die augenfälligste Täuschung findet bei Tausenden und aber Tausenden von Menschen, die in weltlichen Dingen sich der schärfsten Sinne erfreuen, Augen, die Schwarz für Weiß ansehen, Ohren, die der Lüge wie einer Offenbarung aus der Höhe lauschen, und Kniee, die sich vor Charlatanen wie vor Sendboten Gottes beugen. Hier baut die steifnackige Rechtgläubigkeit ihren Tempel auf. Dort stellt der absolute Zweifel den seinen hin. Da wieder hebt das unter dem Boden brennende vulkanische Feuer der Schwärmerei die Decke, und rasch schwillt die anfangs unscheinbare Blase zum mächtigen Dome, in welchem Fanatiker oder Betrüger eine völlig neue Religion verkünden.
Gleich den Prairiebränden und Ueberschwemmungen des fernen Westen verbreiten sich neue Heilsbotschaften über die Gemüther. Wie der Tornado im Urwald die Eichen, werfen die Worte ihrer Apostel zahlreiche Versammlungen auf die Kniee. Reden in Zungen, himmlische Gesichte, Heilungen durch Handauflegen, Engelserscheinungen und Teufelsaustreibungen sind in manchen Kreisen so alltäglich wie in den Zeiten des Urchristenthums. Wunderliches wird wunderbar, Carricaturen verwandeln sich in Heroen. Bald scheinen die Dämonen, die einst in Säue fuhren, bald wieder scheint der Geist der Pfingsten die trübe Fluth zu bewegen. Nichts ist so voll Widersprüche, nichts verstößt so sehr gegen Sitte und Gewohnheit, daß es nicht einen Kreis von Gläubigen um sich sammelte, wenn ein beredter Mund es vorträgt, ein spitzfindiger Verstand es aus der Bibel rechtfertigt, und ein organisirendes Talent ihm kirchliche Gestalt giebt. Ja gerade das Barocke und Bizarre ist es, welches die größte Anziehungskraft auszuüben scheint, wenn es auch häufig nur angenommen wird, um Tags darauf mit einer noch seltsameren Verkehrtheit vertauscht zu werden.
Dieser dem Wechselfieber, Amerika's verbreitetster Krankheit, vergleichbare Zustand, bei dem Leute, die im Laufe weniger Jahre einem Dutzend Kirchen und Confessionen nach einander angehört haben, keine Seltenheit sind, vereinigt in sich fast alle Symptome, welche die Kirchengeschichte seit ihrem Beginn bis heute hat zu Tage treten lassen. Die Ebioniten, die Gnostiker, die Klöster in ihrer Urgestalt, die enthusiastischen Secten des Mittelalters, die Wiedertäufer von Münster, die Camisarden, sie alle finden mehr oder minder ihr Ebenbild in diesem transatlantischen Wirrsal, und nicht ohne wesentlichen Gewinn für das Verständniß jener älteren Erscheinungen dürfte eine genauere Untersuchung dieser ihrer Wiederholungen in der Gegenwart sein.
Andeutungen über die Ursachen dieses auffallenden Phänomens im amerikanischen Leben sind an einem andern Orte gegeben worden1. Hier haben wir es nur mit der sonderbarsten und zugleich mächtigsten Ausgeburt dieses eigenthümlichen Dranges zur Sectengestaltung zu thun – einer Erscheinung, die überdies, indem sie gewissermaßen ein mixtum compositum der Ergebnisse aller ähnlichen ist, uns das gesammte Sectenwesen wiederspiegelt, und schließlich sehr belehrende Streiflichter über die letzten Gründe des politischen und socialen Dichtens und Trachtens in der transatlantischen Musterrepublik wirft.
Daß die Quäker in den Vereinigten Staaten ihren Hauptsitz haben, ist bekannt: ebenso daß die verschiedenen Secten der Wiedertäufer hier gegen zwei Millionen Bekenner zählen. Die Campmeetings oder Lagerversammlungen der Methodisten mit den halb grauenvollen, halb komischen Aeußerungen ihrer Inbrunst, ihren Abrahams a Sancta Clara, ihrem verzückten Jauchzen und ihrer an das Treiben Besessner grenzenden Zerknirschung sind uns wiederholentlich geschildert worden.
Weniger bekannt dagegen dürfte sein, daß um die Mitte des vorigen Jahrhunderts Ann Lee, die Frau eines Hufschmieds aus England, nach Albany kam, die sich für den in weiblicher Gestalt wiedererschienenen Christus ausgab, den Eintritt des tausendjährigen Reichs verkündete, die Vermischung der Geschlechter unter allen Umständen, und somit auch die Ehe für Sünde erklärte, Gott durch Tanz zu verehren lehrte und für diese wunderlichen Heilswahrheiten eine verhältnißmäßig nicht geringe Anzahl von Gläubigen fand, deren Gemeinschaft noch jetzt unter dem Namen der Shaker in achtzehn klosterartigen Niederlassungen mit etwa viertausend Bewohnern fortgesetzt wird. Weniger bekannt mag ferner sein, daß, von einer andern Engländerin, Jane Southcot, gestiftet, in der Stadt Neuyork eine Secte besteht, welche nebst andern Ceremonien auch die Beschneidung unter sich eingeführt hat, daß die Swedenborgianer zahlreiche Gemeinden in Amerika haben, daß die Geisterklopferei sich unter dem Titel Spiritualismus zu einer Art Kirche gestaltet hat, daß in Pennsylvanien, in Ohio und bei Buffalo pietistische Communisten-Niederlassungen blühen, und daß auch Cabet's Icarier hier leidlich gedeihen. Weniger bekannt endlich ist wohl, daß vor etwa zehn Jahren William Miller, der »Widderhornprophet«, die Union durchzog, der mit Hilfe der Bibel, der Mathematik und seiner Phantasie die schreckenvolle Gewißheit herausgerechnet hatte, daß die Welt am 21. März 1844 untergehen müsse, und der mit seiner Predigt im Osten wie im Westen Massen schwachsinniger Seelen zum Verkaufe ihrer Habseligkeiten bethörte.
Alle diese und manche verwandte Erscheinungen finden in der Vergangenheit des christlichen Europa ihr Seitenstück. Die aber, von welcher wir nun handeln werden, hat, als Ganzes betrachtet, soviel uns bekannt, weder in der christlichen Welt, noch im Entwickelungskreise irgend einer andern Religion Ihres gleichen. Das Mormonenthum ist einzig in seiner Art. Es konnte nur dem Boden der neuen Welt entkeimen, nur unter amerikanischer Sonne gedeihen, und wenn es gestattet ist, Phänomene durchaus unerhörter, den gewöhnlichen Voraussetzungen des Geschehens allenthalben widersprechender Art Wunder zu nennen, so stehen wir hier bis auf Weiteres vor einem der größten Wunder unseres Jahrhunderts.
Die Geschichte der Mormonen oder der Latter-Day-Saints, wie sie selbst sich nennen, ist die Geschichte einer tauben Nuß, die, in den Humus der transatlantischen Welt gepflanzt, in einer auf den ersten Blick miraculösen Weise zum riesigen Baume erwuchs und Früchte erzeugte, die keineswegs alle faul sind. Es ist die Geschichte einer Lehre, die, ursprünglich ein ziemlich plumper Puff, allmälig durch Hereinnahme einer Anzahl von mystischen Glaubenssätzen den Schein eines tieferen Inhalts gewann und sich in staatlicher Beziehung zu einer bisher noch nicht dagewesenen Theo-Demokratie ausbildete. Im Stifter der Secte sehen wir unzweifelhafte Talente, große Menschenkenntniß, bewunderswerthe Ausdauer, außerordentlichen Scharfblick in der Wahl seiner Mittel mit unglaublicher Frechheit, tiefer sittlicher Verworfenheit, und einer in ihrer Naivetät oft geradezu drolligen Unwissenheit gepaart. Mag man ihn in einigen Zügen mit Mohamed, in andern mit Cromwell vergleichen, so erinnert er in weit zahlreichern Aeußerungen seines Charakters an Barnum, den »Napoleon der Windbeutelei«, und war er unleugbar ein ungewöhnlicher Mensch, ja darf man ihn als das personificirte Genie des Yankeethums bezeichnen, so erklären sich seine Erfolge doch noch mehr als aus seiner Begabung aus den Verhältnissen, in die er sich gestellt sah.
Diese Verhältnisse aber, unter denen es möglich war, daß eine Secte, die im Jahre 1830 nur aus der Familie ihres Gründers und zwei Freunden bestand, im Laufe von zwanzig Jahren trotz grausamer Verfolgungen und trotz mannigfacher Gelegenheiten zur Erkenntniß der Lügen, die ihr Kern waren, zu einer wohlgeordneten Kirche wurde, deren hunderttausend Bekenner über die ganze Erde zerstreut sind: diese eigenthümlichen Verhältnisse haben für unser Jahrhundert und insbesondere für Amerika ebenso viel Beschämendes als Tröstliches. Sie zeigen, daß in unserer Zeit das Licht der Bildung noch lange nicht so weit leuchtet, als man gemeinhin annimmt und daß namentlich die Vereinigten Staaten und England mit dem Prädicate einer aufgeklärten Nation, das sie sich so gern zulegen, etwas sparsamer umzugehen Ursache haben. Sie zeigen aber auch, daß da, wo freie Institutionen herrschen, und wo die edlen Eigenschaften der
1
Wanderungen zwischen Hudson und Mississippi, von Moritz Busch, Stuttgart und Tübingen, Cotta'scher Verlag, 1854.