Unsichtbare Bande: Erzählungen. Lagerlöf Selma
meinst wohl, ich sei von Sinnen,“ war das erste, was sie hervorbrachte. Zugleich erwog sie, wie sie ihn bewegen könne, über das zu schweigen, was er gesehen hatte. Sie wollte nicht unten im Dorf erzählen hören, daß sie mit einer Fichtenwurzel getanzt habe.
Er war ein wortkarger Mann. Nicht eine Silbe brachte er über die Lippen. Er war so scheu, daß er nichts Besseres anzufangen wußte, als zu fliehen, obwohl er gern geblieben wäre. Hastig kam der Hut auf den Kopf und die Jagdtasche auf den Rücken. Dann lief er zwischen den Heidekrauthügeln fort.
Sie packte das Eßbündel und eilte ihm nach. Er war klein, steif von Bewegungen und hatte sichtlich geringe Kräfte. Sie holte ihn bald ein und schlug ihm den Hut vom Kopfe, um ihn zu zwingen, stehen zu bleiben. Eigentlich hatte er die größte Lust, zu bleiben, aber er war ganz wirr vor Schüchternheit und floh in noch größrer Hast. Sie lief nach und begann, an seiner Tasche zu zerren. Da mußte er stehenbleiben, um die Tasche zu verteidigen. Das Mädchen fiel ihn mit aller Macht an. Sie rangen und sie warf ihn zu Boden. „Jetzt wird er's keinem erzählen,“ dachte sie und war froh.
In demselben Augenblick erschrak sie doch sehr; denn er, der auf der Erde lag, schien ganz bleich und die Augen drehten sich in ihren Höhlen. Er hatte sich aber nicht verletzt. Es war die Gemütsbewegung, die er nicht vertragen hatte. Nie zuvor hatten sich so strittige und starke Gefühle in diesem einsamen Waldbewohner geregt. Er war froh über das Mädchen und zornig und scheu und dennoch stolz, daß sie so stark war. Er war ganz betäubt von alledem.
Die große, starke Jungfrau legte den Arm um seinen Rücken und richtete ihn auf. Sie brach Heidekraut und peitschte sein Gesicht mit den steifen Zweigen, bis das Blut in Bewegung kam. Als seine kleinen Augen sich wieder dem Tageslicht zuwendeten, leuchteten sie vor Freude beim Anblick des Mädchens. Noch immer schwieg er; aber die Hand, die sie um seinen Leib gelegt hatte, zog er an sich und streichelte sie sanft.
Er war ein Kind des Hungers und der zeitigen Mühsal. Trocken und bleichgelb, fleischlos und blutarm war er. Es rührte sie, daß er so verzagt war, er, der doch um die Dreißig sein mochte. Sie dachte, daß er wohl ganz mutterseelenallein tief im Walde leben müsse, da er so kläglich und so schlecht gekleidet war. Keinen hatte er wohl, der nach ihm sah, nicht Mutter noch Schwester oder Liebste.
Der große barmherzige Wald breitete sich über die Wildnis aus. Verbergend und schützend nahm er in seinen Schoß alles auf, was bei ihm Hilfe suchte. Mit hohen Stämmen hielt er Wacht um die Höhle des Bären, und in der Dämmerung dichter Gebüsche hegte er das mit Eiern gefüllte Nest der kleinen Vöglein.
Zu dieser Zeit, da man noch Leibeigene hielt, flüchteten viele von ihnen in den Wald und fanden Schutz hinter seinen grünen Mauern. Er ward für sie ein großer Kerker, den sie nicht zu verlassen wagten. Der Wald hielt diese seine Gefangnen in strenger Zucht. Er zwang die Stumpfen zum Nachdenken und erzog die in der Knechtschaft Verkommenen zu Ordnung und Ehrlichkeit. Nur dem Fleißigen schenkte er die Gnade des Lebens.
Die beiden, die sich auf der Heide getroffen hatten, waren Abkömmlinge solcher Gefangnen des Waldes. Sie gingen manchmal hinunter in die bebauten, bewohnten Täler, denn sie brauchten nicht mehr zu befürchten, in die Knechtschaft zurückgeführt zu werden, aus der ihre Väter geflohen waren; doch am liebsten nahmen sie den Weg durch das Waldesdunkel. Der Name des Schützen war Tönne. Sein eigentliches Handwerk war, den Boden urbar zu machen, aber er verstand sich auch auf andre Dinge. Er sammelte Reisig, kochte Teer, trocknete Schwämme und ging oft auf die Jagd. Sie, die tanzte, hieß Jofrid. Ihr Vater war Köhler. Sie band Besen, pflückte Wacholderbeeren und braute Bier aus dem weißblumigen Porsch. Beide waren sehr arm.
Früher hatten sie einander in dem großen Walde nie getroffen, aber jetzt deuchte sie, daß alle Wege des Waldes sich zu einem Netz verschlängen, in dem sie hin und wieder liefen und einander unmöglich vermeiden konnten. Nie wußten sie nun einen Pfad zu wählen, auf dem sie einander nicht begegneten.
Tönne hatte einmal einen großen Kummer gehabt. Er hatte lange mit seiner Mutter in einer elenden Reisigkoje gehaust; aber als er heranwuchs, faßte er den Plan, ihr ein warmes Häuschen zu bauen. In allen seinen Mußestunden ging er in den Holzschlag, fällte Bäume und spaltete sie in angemessene Stücke. Dann verbarg er das aufgehäufte Bauholz in dunklen Klüften unter Moos und Reisig. Er hatte im Sinn, daß seine Mutter nicht früher von all der Arbeit etwas erfahren sollte, als bis er so weit war, die Hütte aufzubauen. Aber seine Mutter starb, ehe er ihr zeigen konnte, was er gesammelt hatte, ehe er ihr auch nur zu sagen vermochte, was er tun wollte. Er, der mit demselben Eifer gearbeitet hatte wie David, Israels König, als er Schätze für Gottes Tempel sammelte, trauerte bitterlich. Er verlor alle Lust an dem Bau. Für ihn war die Reisigkoje gut genug. Und doch hatte er's nicht viel besser in seinem Heim als ein Tier in seiner Höhle.
Als nun er, der bisher immer allein umhergeschlichen war, Lust bekam, Jofrids Gesellschaft zu suchen, bedeutete dieser Wunsch wohl sicherlich, daß er sie gern zur Liebsten und Braut haben wollte. Jofrid erwartete auch täglich, daß er mit ihrem Vater oder mit ihr selbst von der Sache sprechen werde. Aber Tönne brachte es nicht über sich. Man merkte ihm an, daß er von unfreier Abkunft war. Die Gedanken bewegten sich langsam in seinem Kopf, wie die Sonne, wenn sie über das Himmelszelt zieht. Und schwerer war es für ihn, diese Gedanken zu zusammenhängender Rede zu formen, als für einen Schmied, einen Armreif aus rollenden Sandkörnern zu schmieden.
Eines Tages führte Tönne Jofrid zu einer der Schluchten, wo er sein Bauholz verborgen hatte. Er riß Zweige und Moos fort und zeigte ihr die abgehauenen Stämme. „Das hätte Mutter haben sollen,“ sagte er. Und sah Jofrid erwartungsvoll an. „Dies hätte Mutters Hütte werden sollen,“ wiederholte er. Merkwürdig schwer fiel es dieser Jungfrau, die Gedanken eines jungen Gesellen zu fassen. Da er ihr Mutters Bauholz zeigte, hätte sie doch verstehen müssen; aber sie verstand nicht.
Da beschloß er, ihr seine Absicht noch deutlicher zu erklären. Ein paar Tage später begann er, die Stämme zu der Stelle zwischen den Grabhügeln zu schleppen, wo er Jofrid zum ersten Male gesehen hatte. Sie kam, wie gewöhnlich, heran und sah ihn arbeiten. Sie ging jedoch weiter, ohne etwas zu sagen. Seit sie Freunde geworden waren, war sie ihm oft an die Hand gegangen, aber bei dieser schweren Arbeit schien sie ihm nicht helfen zu wollen. Tönne meinte doch, sie hätte verstehen müssen, daß es ihre Hütte war, die er jetzt zimmern wollte.
Sie verstand es ganz wohl, aber sie spürte keine Lust, sich einem Mann von Tönnes Art zu schenken. Sie wollte einen starken, gesunden Mann haben. Es schien ihr ein schlechtes Auskommen zu versprechen, wenn sie sich mit einem verheiratete, der so schwach und wenig begabt war. Und doch zog viel sie zu diesem stillen, scheuen Mann. Man denke doch, daß er sich so hart geplagt hatte, um seine Mutter zu erfreuen, und nicht das Glück genossen hatte, zur Zeit fertig zu werden. Sie hätte über sein Schicksal weinen können. Und nun baute er die Hütte gerade da, wo er sie tanzen gesehen hatte. Er hatte ein gutes Herz. Und das lockte sie und band ihre Gedanken an ihn; aber sie wollte durchaus nicht seine Frau werden.
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